Wrath James White: Schänderblut

 

Bei der Lektüre dieses Romans erlebte ich eine emotionale Achterbahnfahrt – das lag jedoch weniger an der durchaus provokanten Thematik, als an der handwerklichen Ausführung: Vom intensiven Erzählen innerhalb spannender Perspektiven bis hin zu Klischees, die eigentlich schon vor Jahrzehnten ausgelöscht sein sollten, und unstimmigen Figuren findet man hier alles. Leider überwiegt das Negative, weshalb ich mehrmals kurz davor war, das Buch wieder weg zu legen. Nur die seltenen Schmuckstücke, die ausgerechnet das medikamentenbenebelte Gehirn des pädophilen Mörders Damon Trent ausspuckt, konnten das knapp verhindern.

 

 

Wenn dich die Schilderung sexualisierter Gewalt bzw. das Thema Kindesmissbrauch triggert oder du dich schlichtweg nicht mit dieser Thematik (innerhalb der Unterhaltungsliteratur) befassen möchtest, solltest du weder „Schänderblut“ noch meine Rezension lesen.

Klappentext (vom Festa Verlag):

Sind Serienmörder nur Opfer einer ansteckenden Krankheit?
Vor 15 Jahren wurde Joseph Miles von einem Kinderschänder entführt, im Keller eingesperrt und tagelang brutal gefoltert. Er ist das einzige Opfer des wahnsinnigen Mörders, das die Torturen überlebt hat. Nun verspürt Joseph ein brennendes Verlangen, einen irren Drang nach Blut und Gewalt. Er verwandelt sich langsam selbst in ein Monster mit Appetit auf Menschenfleisch. Und es fällt ihm schwerer und schwerer, dieser Mordlust zu widerstehen. Verzweifelt sucht Joseph nach einer Heilung – bevor er die einzige Frau, die er jemals geliebt hat, töten wird. Und macht Jagd auf den Mann, der sein Leben ruinierte.

Der Roman wirft den Leser auf den ersten Seiten in einen Alptraum, aus dem es für den Protagonisten Joseph nur scheinbar ein Erwachen gibt. Denn sobald Joey der Wachzustand und damit die Realität der Gegenwart einholt, wird klar, dass die Erinnerungen an sein erlittenes Trauma nicht das einzige Problem sind. Dieser Eindruck bestätigt sich nach einem Zeitsprung von 10 Jahren erneut, wobei die Sprache des Protagonisten – inzwischen ganz erwachsen als Joe betitelt – deutlich mitgealtert ist, da sie wesentlich explizitere und brutalere Züge angenommen hat.

Konfrontationen zwischen Opfer und Täter finde ich grundsätzlich interessant, obwohl die wenigsten Texte (und noch in geringerem Ausmaß: Filme) der Fülle an Emotionen und der schieren Größe einer solchen Begegnung gerecht werden. Gleiches gilt für die Schilderung von traumatisierender Gewalt, die oft genug verkleinernd wirkt – so auch hier. Das ist sehr schade, denn die Grundidee, dass Kannibalismus nur eine weitere evolutionäre Stufe des Serienmörderdaseins sei, das wiederum wie ein Virus durch Blut übertragen wird, birgt Potential, das leider nicht ausgeschöpft wird. Unter anderem liegt das an den Befürwortern besagter Theorie: Die Professoren, vor allem John Locke (Echt jetzt? Und dann hatte dieser Mensch noch im Nebenfach Philosophie?), gleichen dummen, hochstaplerischen Collegeboys. In dem Bestreben, das gesamte Personal des Romans möglichst unmoralisch zu gestalten, wirkt besonders Locke absolut unglaubwürdig. Seine Motivation ist nicht nur banal, sie passt auch nicht zu dem ersten Bild, das man sich beim Lesen von ihm machen konnte. Da er bereits als Berater des FBIs fungierte, sollte er mehr draufhaben, als er (Mini-Spoiler!) bei dem Versuch zeigt, vor der Polizei zu Joe gelangen. Und über die Glaubwürdigkeit des Protagonisten muss ich vermutlich keine weiteren Worte verlieren.

Wie beinahe jede Kannibalen-Fiktion liefert auch „Schänderblut“ diverse Anleitungen für die Zubereitung von Menschenfleisch. Wrath James White präsentiert dabei den besonders origineller Einfall, einige Rezepte vom zukünftigen Hauptgericht selbst rezitieren zu lassen.
Explizit wird es bei der Beschreibung des Kannibalismus fast immer im doppelten Sinne, und im Verlauf des Romans stellt der Protagonist fest, wie sich sein Hunger und sexuelles Verlangen angleichen und verschmelzen:
„Das kleine Stück Fleisch aus Franks Arschbacke zu essen, war die intensivste sexuelle Erfahrung seines bisherigen Lebens gewesen, und er wollte mehr. […] Das Gefühl seines Schwanzes in ihrem Arsch war nichts im Vergleich zu der Wonne, die ihr Arsch in seinem Magen hervorrufen würde.“ (Wrath James White: “Schänderblut”)
Manche Textstellen, leider auch die Schlüsselszene von Joe und seiner vermeintlich großen Liebe Alicia, wirken dabei derart übertrieben, dass man annehmen könnte, sie seien von einem pubertierenden Menschen geschrieben, der Blut und Gewalt unbedingt mit Sex verquicken muss. Etwas weniger herbeigezwungene Penisse und Brüste wären dem Roman gut bekommen. Zumal Themen wie Sexsucht, Swingerclubs und sogar die BDSM-Szene als Randnotizen auftauchen und in den schillerndsten Unarten dargestellt werden, die zum Teil deutlich im Bereich des Fantastischen anzusiedeln sind, während wichtige Grundprinzipien eigentlich nie eine Rolle spielen.

Glücklicherweise muss ich keine literaturwissenschaftliche Abhandlung über den Roman schreiben, denn allein der Umgang mit dem Dauerbrenner unter den narratologischen Fragestellungen „Wer spricht?“ könnte man sich sehr lange beschäftigen, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Zunächst wirkt der Text wie eine Ansammlung personaler Erzähler, die verschiedene Perspektiven beleuchten, um einen denkbar authentischen Eindruck zu erwecken. Allerdings gibt es immer wieder Anzeichen eines auktorialen Erzählers, der jedoch die Möglichkeit hat, in das Innenleben der meisten Figuren zu sehen und es zu schildern. Zwar kommentiert er weder, noch nimmt er Dinge vorweg, doch auf sprachlicher Ebene finden sich Hinweise dafür. Wenn ein Professor oder ein Student bestimmte Fachbegriffe verwendet, fällt das nicht störend auf. Dies wird in „Schänderblut“ sogar durch andere Figuren abgestraft, die ihr Unverständnis erkennen lassen und sich dabei mit unverhohlener Verachtung gegen alles vermeintlich Elitäre präsentieren. Von jemandem wie Alicia erwarte ich allerdings kein „Miasma aus Schmerz und Fieber“, das sie überdies in einer Extremsituation wahrnimmt. Ein weitestgehend zurückhaltender auktorialer Erzähler sollte einen guten Grund dafür haben, sich plötzlich doch zu exponieren. Da das nicht der Fall ist, möchte ich handwerkliche Schwächen nicht ausschließen, wenn Ausdruck und Perspektive der Figuren nicht immer übereinstimmen, während an anderen Stellen viel Wert auf Slang oder anderweitig authentische Sprache gelegt wird.

Ein weiteres Manko sind einige Neben- und sämtliche Frauenfiguren. Bei Alicia kann man noch ein wenig Milde walten lassen, sie zweifelt schließlich selbst oft genug an ihrer Einschätzung von Joe. (Ob es beabsichtigt ist, dass sie sich dabei immer wieder widerspricht, ohne es zu bemerken, während sie andere Inkonsistenzen ständig wiederkäut und kommentiert, weiß nur der Autor.)
Warum aber jede Frau, sei es eine Bibliothekarin oder ein Aktmodell, Angst vor Joe hat und dadurch unsagbar erregt wird (natürlich, weil sie lange zu wenig Beachtung durch Männer erfahren hat), und sich ihm deswegen an den Hals bzw. zum Fraß vorwirft, bleibt ein Rätsel. Denn noch habe ich keine anderen Titel von Wrath James White gelesen, um ihn eines überholten, fragwürdigen und sexistischen Rollenbilds bezichtigen zu können, und ohnehin sollte man Erzähler und Autor nicht gleichsetzen. Trotzdem war ich am Ende reichlich genervt, und das auch von diversen männlichen Nebenfiguren, die als leblose Stereotype darauf warten, dass der Protagonist Joe ihnen eine Daseinsberechtigung erteilt.

 

 
Gerade noch drei von fünf Ballen.