Tag 6 der Blogtour: Intertextualität in Faye Hells Romanen

Blogtour zu Rigor Mortis

Als Trüffelschwein bezeichnet zu werden, war eine völlig neue Erfahrung für mich – und es entspricht nicht ganz meinem Selbstbild. Und doch … mit meiner Rolle als Trüffelschwein für intertextuelle Bezüge kann ich mich durchaus anfreunden, vor allem, wenn es dabei um die Bücher von Faye Hell geht.

Du ahnst es vielleicht schon: Diese Zuschreibung stammt von der Queen des deutschsprachigen Horrors höchstpersönlich. Nach der Lesung auf dem House of Horrors in Oberhausen hüllte sie mich mit besagtem Kommentar in einen leuchtend roten Schleier der Verlegenheit, der noch ein paar Stunden um mein Haupt wehte – und mich darin bestärkte, bei der Blogtour genau diesen Aspekt ihrer Bücher zu beleuchten. Der Schwerpunkt liegt natürlich auf „Rigor Mortis – schattenschwarz und totgeschwiegen“, um allen Wartenden die Zeit bis zur Veröffentlichung des Romans zu versüßen.

Intertextualität? Intermedialität!

Begeisterten mich „Keine Menschenseele“ und „Tote Götter“ bereits durch wunderschöne eingewobene oder subtil platzierte Verweise zu Werken der klassischen Literatur, wurde ich von Fayes neuestem Roman beinahe erschlagen: „Rigor Mortis“ strotzt nur so vor Bezügen zu anderen Texten und geht sogar noch einen Schritt weiter. Neben einem überaus bekannten Filmzitat verbergen sich hier auch Anspielungen auf Werke der Bildenden Kunst – wobei das verbergen besonders in einem Fall gilt, bei dem ich sämtliche meiner „Trüffelschwein-Skills“ bemühen musste. Erst war ich von der Entdeckung begeistert, dann plötzlich unsicher, ob ich nun doch über das Ziel hinausgeschossen bin – und ein literarisches Bildzitat erkenne, wo keines ist. Doch kann es wirklich reiner Zufall sein, dass sich vor meinem geistigen Auge die dunkle Erinnerung an Goyas Capriccio 43 bildet, wenn ich in Rigor Mortis lese:

Tatsächlich kümmerte der Traum nur den Einfältigen, während das wache Leben noch den Tapfersten zu brechen wusste. Die vergänglichen Ungeheuer des Schlafes waren die Zuflucht der Vernünftigen.Faye Hell: Rigor Mortis
Francisco de Goya: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“
Goya-Capricho-43(gemeinfrei; Wikimedia Commons)

Francisco de Goyas „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ ist eine von 80 Radierungen des spanischen Malers – aber nicht irgendeine, sondern die bekannteste und bedeutsamste. Die Suchmaschine deines Vertrauens wird dir schon innerhalb kürzester Zeit einen Eindruck davon verschaffen, wie enorm der Einfluss des Capriccios auf die künstlerische Nachwelt war und ist. Interessierten Leseratten kann ich außerdem „Der Schlaf der Vernunft. Goyas Capricho 43 in Bildkunst, Literatur und Musik“ von Helmut C. Jacobs empfehlen.
An dieser Stelle ein grafisches Werk zu interpretieren, über dessen Deutung bis heute diskutiert wird, ist weder sinnvoll noch zielführend – stattdessen möchte ich dich nur auf einige wenige Aspekte aufmerksam machen:

Die Schattenhaftigkeit der zum Teil nur angedeuteten Fledermäuse sticht direkt ins Auge und erinnert an die Schatten, die sich in Rigor Mortis der gewohnten, „vernünftigen“ Welt der Menschen bemächtigen. Doch inwieweit die Tiere, die den schlafenden Künstler umgeben, tatsächlich eine Bedrohung für ihn darstellen, lässt sich – zumindest für mich – nicht abschließend beantworten. Und dass eins der nachtaktiven Geschöpfe das Schreib- oder Malwerkzeug des Künstlers hält, es ihm vielleicht sogar überreichen will, spricht für das kreative Potenzial – sei es nun im Unbewussten oder in der Dunkelheit verortet. Ohne zu viel verraten zu wollen: In Rigor Mortis sind selbst die Schattenwesen nicht kontinuierlich in ein bedrohliches Schwarz gehüllt. Zugleich stellt sich die Frage nach dem Zustand jener Menschen, deren „Licht“ von den Schatten geraubt wurde – ihr weiteres Dasein könnte ebenfalls mit dem Schlaf der Vernunft, im Sinne eines Zustands von fehlendem Bewusstsein, gedeutet werden.

Zudem ist die Verbindung der vermeintlich voneinander unabhängigen Welten noch in einem tieferen Sinn zu erkennen, denn das unaufgelöste Gegenüber von Vernunft und Fantasie spielt auch im Roman eine wichtige Rolle. Oder warum sollte es ausgerechnet Stephen Oaks sein, ein Mathematiker und Freigeist, der sich für schwarze Magie interessiert – und einen Dämon in seine geordnete, wenngleich faustisch leere Welt einlassen will. Und wie Faust führt er ein Beschwörungsritual aus, das für ihn unerwartete Konsequenzen hat … Den Bezug zu Goethes Faust stellt Faye Hell im Übrigen nicht das erste Mal in einem ihrer Romane her: Auch in „Keine Menschenseele“ ist dieser intertextuelle Verweis mehr als deutlich zu erkennen, da ein moderner und eiskalter Mephistopheles an unterschiedlichsten Schauplätzen sein Unwesen treibt. (Mehr über Faye Hells Debütroman und die dortigen literarischen Verwebungen kannst du in meiner Rezension nachlesen.) Spannend ist ebenfalls, wie sehr eine bestimmte Figur aus besagtem Roman offenbar ihren Weg in die Welt von Rigor Mortis gefunden hat … Christian Miller und Richard Darius sollte man vielleicht mal einem genaueren Vergleich unterziehen 😀

Von kanonischer Literatur zu Glitzervampiren …

Weitere Klassiker, aber auch neuere Texte finden – oftmals durch den ausgeprägten Lesetrieb der Protagonisten – explizite oder implizite Erwähnung: „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm, Dante Alighieris „Göttliche Komödie“, „Die Grube und das Pendel“ von Edgar Allan Poe sowie „Die Hyperion-Gesänge“ von Dan Simmons und die Romane von J. R. R. Tolkien, um nur einige offensichtliche Bezüge zu nennen. „Der Prozess“ von Franz Kafka wird von Randall Henderson auf wunderbar treffende Weise für sich vereinnahmt, indem er sich selbst als das Gericht, also jene anonyme und unergründliche Übermacht, begreift, die nach Belieben über das Schicksal der Menschen entscheidet. Zur vermutlich allgemeinen Erheiterung kriegen die Glitzervampire aus Stephenie Meyers „Twilight“ kurz und schmerzlos ihr Fett weg, während die anderen Titel Respekt und Wertschätzung erfahren.

Blasphemische Töne – oder das Spiel mit der Bibel

Darüber hinaus – wenig verwunderlich bei einem Text, der sich nicht nur in den schattenhaften Nuancen zwischen Gut und Böse bewegt, sondern oftmals das gewalttätige Potenzial einiger Figuren ungeschönt darstellt, – gibt es zahlreiche pervertierte Verweise auf die Bibel. Auch wenn ich schon vor langer Zeit aus der Kirche ausgetreten bin, erkenne ich ein Vaterunser, sobald es mir vorgepredigt wird … selbst in einer blasphemischen Variante:

Vater unser
Schenk uns diese prallen Brüste und diese festen Schenkel
Lass uns glauben
Glauben, wir könnten in diese Perfektion eindringen mit unserer Lust
Faye Hell: Rigor Mortis

Deutlich subtiler, aber nicht weniger aberwitzig ist es dagegen, wenn sich ein Dämon ausgerechnet am siebten Tage nach seiner Beschwörung zeigt – hier wird eine etwas andere Schöpfungsgeschichte erzählt. Pointierter als Randall Henderson kann man der christlichen Kirche ohnehin kaum den Stinkefinger zeigen, wenn er sagt: „[…] in Dawson gilt: Mein Wille geschehe!“ Der ursprüngliche Text (Dein Wille geschehe) stammt natürlich ebenfalls aus dem Vaterunser.

Von Übermenschen und Dichtern

Ist Gott also tot in Rigor Mortis? Man könnte vielleicht Nietzsche dazu befragen, dessen Gedankengut schon aus den überheblichen Worten des Talkmasters Richard Darius herauströpfelt, bevor er sich explizit als Anhänger von Nietzsche (und Wagner) outet, wobei er direkt den Wahnsinn zur Diskussion stellt, mit dem er auf den Philosophen ebenso verweist wie auf sich selbst.

Und weil ich mich möglicherweise ohnehin schon so tief aus dem Fenster gelehnt habe, dass ein Sturz unvermeidlich erscheint … Liebe Faye, magst du Dylan Thomas?
Oder muss nur ich an dessen Gedicht „Do not go gentle into that good night“ denken, wenn ich lese: „Flieh nicht einfach gelassen in den schnellen Tod.“ (Faye Hell: „Rigor Mortis“)
Für alle, die es nicht kennen, der Kontext in Kürze: Dylan Thomas schrieb das Gedicht vermutlich für seinen sterbenden Vater; die gute Nacht symbolisiert dabei den Tod.

Schwurbelt dir jetzt auch der Kopf? Ausgezeichnet – ich hoffe, du findest dennoch deinen Weg zurück zur Blogtour auf Facebook, um meine Frage(n) zu beantworten.