Scobel und Winkels: Orientierung im Bücherdschungel

Wie immer, wenn ich sowas mache, also eine Theatervorstellung, Lesung oder Bücherschau besuche, kurzum eine soziale Begegnung mit Menschen habe, ohne dass irgendwo laut Metal oder Noise gespielt wird, war mir die Wartezeit vor „Scobel und Winkels: Orientierung im Büscherdschungel“ ein Graus. Während mein Kopf politisch inkorrekte Sachen ausspuckte, wütend auf mich, dass ich uns beide wieder in eine derart unangenehme Situation bringe, füllte sich der Raum der Kölner Stadtbibliothek am Neumarkt langsam, aber beständig – und bald auch die Bühne. Mit Gert Scobel und Hubert Winkels, mit Glaskaraffen und Wassergläsern, natürlich, außerdem mit Rotwein.

Im Rahmen ihrer Begrüßung gaben Winkels und Scobel einen kurzen Einblick, wie sie ihre Bücherschauen normalerweise terminlich ausrichten, nämlich nach den Buchmessen, zu denen üblicherweise die wichtigen Veröffentlichungen erfolgen. Diesmal mussten sie ein anderes Datum wählen, zu dem – aufgrund der stark an der Messe ausgerichteten Verlagsbranche – nicht so viele Neuerscheinungen vorlagen. Doch so ungünstig wie eingangs dargestellt, war die Terminplanung nicht – schließlich wurden nur wenige Stunden vor der Veranstaltung die Nominierungen für den Leipziger Buchpreis veröffentlicht. Diese haben das Gespür der Literaturkenner in ihrer Vorauswahl durchaus bestätigt, denn zwei der vorgestellten Titel finden sich darin wieder.

Scobel und Winkels: Orientierung im Bücherdschungel

Ingo Schulze: „Die rechtschaffenen Mörder“

Zunächst skizzierte Scobel „Die rechtschaffenen Mörder“ von Ingo Schulze. Der dreiteilige Aufbau des Romans mit seinen unterschiedlichen Perspektiven und die zugrunde liegende Meta-Fiktion weckten mein Interesse: Während im ersten Teil Legendenbildung über den Protagonisten Norbert Paulini betrieben wird, zerstört der zweite Teil diese, und der dritte sämtliche Gewissheiten, die man sich zuvor erlesen hat. Oder, wie Scobel es formuiert: Wenn Sie denken, die beiden auf der Bühne haben gar keine Ahnung, wovon sie gerade reden, also davon, was tatsächlich im Buch passiert, dann haben Sie recht.

Der labyrinthische Aufbau stört ihn weniger; was ihm fehlt, ist die Message. Beziehungsweise eine Message, die den mehr als 300 Seiten des Romans gerecht wird. Für Schulzes dünnes Statement (Bücherliebe schützt nicht vor der Hingabe an den Faschismus) hätte jemand wie Reich-Ranicki lediglich zwei Sätze benötigt, so der Wissenschafts- und Kulturjournalist. Bei der finalen Bewertung der rechtschaffenen Mörder entwickelte sich ein spannendes Streitgespräch zwischen ihm und Winkels. Der führte dabei auch das Beispiel der Pegida-nahen Susanne Dagen und ihrer Buchhandlung an, in der neben wenig umstrittener hoher Literatur auch Publikationen aus dem neurechten Antaios-Verlag zu finden sind. Ohne das Buch bereits gelesen zu haben, fühle ich mich eher Scobels Position zugeneigt, der fast schon genervt konstatierte: „Diese armen Pegida-Leute verstehen wir nicht“, das ist doch keine Message für ein Buch!

Leif Randt: „Allegro Pastell“

Ähnlich uneinig sind sich Winkels und Scobel im Hinblick auf Leif Randts „Allegro Pastell“; wenn auch aus anderen Gründen. Hier geht es um Konsummenschen, nach oben und unten beschnittene Hedonisten, die nur einen Zustand der Happyness kennen und sich in diesem stets gegenseitig rückversichern müssen. Den Ausgangspunkt bildet eine bis zum Erbrechen durchgeplante, makellose Fernbeziehung. Sie ist der einzige wirkliche Handlungsstrang, die wenigen Zerwürfnisse (die ein derart drastisches Wort aufgrund der gedämpften Erzählweise vermutlich nicht mal verdienen) spielen sich in dieser Paarbeziehung ab, es gibt weder Dynamik noch Dramatik oder Dramaturgie.

Scobels Frage an Winkler löste nicht nur bei mir ein herzhaftes Lachen aus: Verstehst du jetzt, warum ich Probleme mit deutschsprachiger Literatur habe? Der 3sat-Moderator fühlte sich hier um Lese- und Lebenszeit betrogen. Denn anders als beispielsweise in der Erzählung „Rave“ von Rainald Goetz sieht er hier nur den stinklangweiligen Teil der Realität wiedergegeben; anstelle von Exzess erwartet die Leser*Innen eine lähmende Dumpfheit – eben Pastell auf jeder Seite. Tatsächlich versteht Winkels den Kritikpunkt nicht, denn seiner Meinung nach ist die Form, mit der die Langeweile in „Allegro Pastell“ erzählt wird, alles andere als langweilig. Hinsichtlich der skizzierten Konsum- und Markenaffinität musste ich immer wieder an Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ denken – einen Roman, den ich sicher niemals (aus)gelesen hätte, wenn er nur auf der Ebene der Äußerlichkeiten und Markennamen geblieben wäre. Zugegeben: Möglicherweise auch, wenn ich nicht von vornherein gewusst hätte, welche gewalttätigen Sauereien dort noch auf mich warten …
Fun Fact: Die deutsche Fassung erschien – wie Randts „Allegro Pastell“ – bei Kiepenheuer & Witsch.

Ali Smith: „Herbst“

Das erste Buch, das mich sofort und auf mehreren Ebenen angesprochen hat, war Ali Smiths „Herbst“. Der Klappentext allein hätte mich nicht als Leserin gewonnen, denn das Setting finde ich maximal uninteressant. Ein alter Mann wird regelmäßig im Altersheim von seiner früheren Nachbarin besucht, die ihm vorliest. Er hatte ihr, als Elisabeth noch ein Kind war, die Welt der Kunst nähergebracht. Mein erster Gedanke: Oh, toll – deswegen Herbst … der alte Mentor wird auf seinem Weg zum Tod begleitet.
Doch nach der Besprechung durch Winkels und Scobels spiele ich mit dem Gedanken, dem Roman von Ali Smith eine Chance zu geben: So viel mehr wird hier verhandelt als nur das Schicksal der beiden genannten Figuren, „Herbst“ büxt immer wieder aus, um Absurditäten aus Alltag und Weltpolitik unterhaltsam zu präsentieren, wie Scobel mit einem Zitat aus dem Buch am Beispiel des Brexits zeigt. Auch sprachlich wirken solche Stellen wie ein Kontrast zum ansonsten oftmals poetischen Roman. Hubert Winkels empfindet diesen übrigens als gewollt unverständlich und schwer zu lesen, einen Brexit-Zusammenhang erkennt er nicht, weshalb dem Publikum auch hier ein geistreiches wie unterhaltsames Gespräch über Literatur geboten wurde.

Scobel und Winkels: Orientierung im Bücherdschungel

Der Blick zurück … nicht nur dank Erich Kästners: „Emil und die Detektive“

Wer sich schon während der ganzen Zeit gefragt hatte, warum zwischen Winkels und Scobel ein freier Platz auf der Bühne blieb, musste auf die Antwort bis zuletzt warten: Gisela Steinhauer, Radio-Moderatorin beim WDR 2, WDR 5 und für den Deutschlandfunk Kultur, verstärkte die beiden für die letzten 20 Minuten im Bücherdschungel. Mehr als ihr Buchtipp irritierte mich, wie ausgerechnet sie als die einzige und erst zum Schluss auf die Bühne geholte Frau derart gegen vermeintlichen Genderwahnsinn um sich schoss – traurigerweise ein häufiges Symptom des gesellschaftlichen Syndroms im Umgang mit dem Plus an Sensibilität für Ungerechtigkeiten. Immerhin erstarb das zaghafte Klatschen im Publikum recht schnell, als die Masse nicht einstimmen wollte.

Steinhauer fühlt sich in Erich Kästners „Emil und die Detektive“ gut aufgehoben, wenn sie nach einem anstrengenden Tag mit klugen Menschen, die viel Kluges zu sagen haben, etwas abschalten will. Solche Puddingabende, wie sie es angesichts der Menüauswahl für diese Stunden nennt, finde ich grundsätzlich sympathisch, wenngleich ich ihr Hohelied auf das klare Schwarz-Weiß des Romans nicht teilen möchte – die Welt ist komplex und (auch Kinder-)Literatur sollte sie abbilden. Aber zu behaupten, in dem Text gäbe es ganz ohne Genderkram Gleichberechtigung, weil ein einziges Mädchen in der Gruppe von Jungs dabei ist, während der Protagonist natürlich männlich (und mit Pony Hütchen verwandt) ist, empfinde ich als ziemlich blind. Wenn man bei Figuren in diesem Alter überhaupt so binär denken möchte, kann man Pony Hütchen allenfalls als Quotenfrau bezeichnen.

Steinhauers Lobrede zum Pflichtbewusstsein bei unangenehmen oder langweiligen Aufgaben, das Gisela Steinhauer am Beispiel von Dienstag (einer Nebenfigur in „Emil und die Detektive“) schildert, hatte für mich ebenfalls einen üblen Beigeschmack angesichts ihrer vorherigen Hinwendung zum Einfachen als (zeitweises) Ideal. Denn die Verbindung von preußischer Tugend und der Verweigerung, eine komplexe Welt als solche anzuerkennen und für sie einzutreten, halte ich für gefährlich. Egal, ob man sich dabei auf die deutsche Vergangenheit, derzeitige politische Umtriebe in der Bundesrepublik oder auf die aktuelle Weltpolitik beziehen möchte. Daher war ich erleichtert, als das Wort wieder an Scobel ging, der – während einiger ihrer Äußerungen ein besonderes Interesse an seinem Glas Wein entwickelte – noch ein paar weitere Buchempfehlungen aussprach. (Neben „Herbst“ befinden sich nun auch „Das Ende der Evolution“ und „The Electric State“ auf meiner Wunschliste.)

In Summe bot die Veranstaltung durch die literarischen Streitgespräche und drei für mich besonders interessante Buchtipps eine gelungene Unterhaltung mit Mehrwert. Jetzt heißt es wieder Warten: Auf den nächsten Monat und das nächste Gehalt, bzw. auf das, was davon nach dem Tattoo-Termin im März noch übrig bleibt …