Peter Lancester (Hrsg.): Fleisch 6 – (Un)erotische Geschichten aus der Welt der Schmerzen und des Wahnsinns

Fleisch 6 - Horror-Anthologie

Der Name ist Programm – in Fleisch Sex beziehungsweise Fleisch 6 dreht sich alles um sexuelle Perversitäten. Da ich Band 3 und 4 der Reihe einigermaßen verschlungen hatte (und das als Vegetarierin/Dreiviertelveganerin), freute ich mich umso mehr über dieses Rezensionsexemplar.

Klappentext (vom Eldur-Verlag):

Kann Horror Literatur sein? Kann Horror Kunst sein? Oder endet jeder Versuch am Ende doch nur in der Aneinanderreihung billiger Schock- und Ekeleffekte? So fragten wir 2005, und das große Experiment hieß “Fleisch und andere Appetitverderber”.

Die Frage ist 13 Jahre und 5 maximal erfolgreiche Fortsetzungen später klar zu beantworten.
Die Fleisch-Bücher, Deutschlands erste Extremhorror-Reihe, ist inzwischen den meisten Lesern bekannt, sie ist und bleibt ein kompromisslos abstoßendes Sammelsurium kranker Phantasien für die Hartgesottensten unter den Hartgesottenen. Doch immer wurde und wird dabei auch auf den literarisch-künstlerischen Aspekt Wert gelegt. Das ist, worin sie sich bis heute von ihren zahlreichen Epigonen unterscheidet. Die hier versammelten Geschichten vereinen extreme Brutalität und Ekelhaftigkeit auf der einen Seite mit guten Plots, Spannungsbögen und Pointen auf der anderen Seite. Sogar ein wenig Humor darf nicht fehlen. Die Auswahl an sehr unterschiedlichen Autoren mit dem ihnen jeweils ureigenen Schreibstil sorgen dabei für maximale Abwechslung, so dass für jeden Geschmack etwas dabei ist.

Fleisch 6 ist ein Sonderband. In jedem Band bisher ging es neben Schmerz und Horror auch immer wieder auf sexueller Ebene sehr explizit zur Sache. Wie das Titelbild bereits andeutet, sind diesmal ausschließlich Geschichten vertreten, die in irgendeiner Weise mit Sex zu tun haben. Aber natürlich sind es allesamt Horrorgeschichten. Schmerz und Wahnsinn sind weiterhin das Leitmotiv der Königin der Horror-Anthologien!

Über die Feiertage hatte ich endlich Zeit, mich dieser schönen Bescherung zuzuwenden – weihnachtlicher wird es bei mir nicht … ? 😀

Was mir bei der Lektüre direkt ins Auge sprang, ist die thematische Vielfalt der Geschichten:
Die Anthologie bietet einen guten Querschnitt an Szenarien, die man bei dem Begriffspaar Fleisch und Sex im Horror-Kontext erwarten würde. Naturgemäß kann das nicht den Geschmack aller Leser*Innen treffen, da die einzelnen Beiträge auch stilistisch recht unterschiedlich ausfallen. Einige Texte triefen beispielsweise mehr vor Klischees als vor Blut – und das will bei der Anthologie etwas heißen.
Andere Titel sind dagegen in ihrer Darstellung derart übertrieben und unrealistisch, dass sie eher als Gore-Komödie durchgehen, was aber kein Minuspunkt sein muss – zumindest auf mich machte „Über den Tod hinaus“ von Holger Krass nicht den Eindruck, gänzlich ernst genommen werden zu wollen. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen empfand ich den Beitrag als unterhaltsame Abwechslung, nicht zuletzt wegen der Detailverliebtheit und des fast schon ironisch bedächtigen Beginns. Die Wortwitze, von Anfang an als Hinweis darauf zu verstehen, was genau es mit Iris’ Zustand auf sich hat, fügen sich perfekt in das Konzept ein.

Manch ein Gewaltexzess mag überzogen wirken (beispielsweise in Chris Drews „Das Spiel der Fetische“), allerdings sollte man bei der Fleisch-Reihe inzwischen wissen, worauf man sich einlässt. Es handelt sich eben um extremen Horror und nicht um Mainstream-Grusel mit dem einen oder anderen Slasher-Moment. Dementsprechend geht es auch bei Fleisch Sex ans Eingemachte – in mehrfacher Hinsicht.

Meine drei persönlichen Favoriten bieten mehr als gute Horror-Unterhaltung, nämlich eine originelle Geschichte, die etwas den gewohnten Rahmen verlässt und/oder sprachlich besonders reizvoll ist:

Maximilian Goldenfeld: „Verringert“
Ein Date, das zunächst irritiert und dann recht schnell wahnwitzige Züge annimmt: Maja wird von Anfang an als merkwürdige bis verrückte Person beschrieben, doch wie schlecht es um ihre Zurechnungsfähigkeit bestellt ist, merkt der Protagonist Leif trotzdem erst zu spät. Majas Ausbrüche aus der Realität, so absurd sie zuweilen anmuten, fügen sich hervorragend in die Szenerie ein, weshalb eine atmosphärisch dichte Handlung entsteht, die immer abstrusere Ausmaße annimmt und weit über das hinausgeht, was man als Leser*In aufgrund der gesetzten Hinweise erwarten würde. Die bildhafte Sprache, beinahe ein Alleinstellungsmerkmal innerhalb der Anthologie, wirkt niemals überladen und bereichert die Kurzgeschichte ungemein: „Sie schien aus einem Tümpel von Wahn aufzutauchen, noch etwas Schlingpflanzen an sich, aber wieder klar.“ (Maximilian Goldenfeld: „Verringert“)
Das relativ plötzliche Ende, nach einem fast schon tumultartigen Höhepunkt, fand ich schade – nicht, weil es überhastet wirkt, sondern allein aus dem Grund, dass ich gerne noch mehr davon gelesen hätte.
Pjotr X: „Snuff Geisha“
Was für die ganze Anthologie gilt, lässt sich von dieser Story ebenfalls behaupten: Der Name ist Programm. Ungeachtet der enormen Erwartungshaltung, die ein solcher Titel erzeugt, enttäuscht Snuff Geisha in keiner Weise. Zusätzlich zu den brutalen Entartungen, an deren Ende vermutlich nicht nur ich unweigerlich an „Martyrs“ denken musste (ja, natürlich an das UNCUT Original und nicht an das langweilige Remake; alle Horrorfilm-Liebhaber können ihre Steine also getrost wieder einpacken, anstatt mich präventiv damit zu bewerfen) …
Harunas Perspektive bietet dabei aber ein interessantes Plus: Die Welt, die sie kennt, ein Gebilde aus Schmerz und Unterwerfung, in der ein möglichst brutaler Tod als höchstes Ziel gilt, ist erschreckend gut inszeniert, obwohl sie nur skizzenhaft beschrieben wird. Und auch die kurzen Ausbrüche aus der indoktrinierten Gedankenwelt, die ebenso geringe Überlebenschancen haben wie Haruna, sind stimmig erzählt.
Simona Turini: „Ruhestörung“
„Ruhestörung“ beginnt atmosphärisch dicht und spielt geschickt mit den Erwartungen der Leser*Innen – um sie mit einem Paukenschlag in ihr Gegenteil zu verkehren.
Die Gewalt kriecht beinahe lautlos in den Text hinein und entlädt sich ungehemmt in einem kurzen, aber schmerzvollen Ausbruch. Eingebettet wird diese Brutalität in eine durchdachte, spannend arrangierte Rachegeschichte, die nicht einmal vor der Zurschaustellung ihrer eigenen Sinnlosigkeit und Destruktivität zurückschreckt. „Ruhestörung“ schafft es damit, auch nach der Lektüre im Gedächtnis zu bleiben, da hier mehr als dunkle Unterhaltung geboten wird.
Eigentlich war das für mich keine Überraschung – schließlich erging es mir mit dem Text „Newport“ (erschienen in Hell/Steinmetz [Hrsg.]: „Ghost Stories of Flesh and Blood“) ähnlich, obwohl Simona Turini dort einen völlig anderen Ton anschlägt.

Einziger Wermutstropfen von Fleisch 6: Trotz der Vielfalt an Szenarien stechen nur wenige Texte durch ihren Einfallsreichtum oder sprachliche Gewandtheit heraus – der Rest ist eine solide Unterhaltung für Horrorfans, kommt aber nicht ganz an die literarische Offenbarung heran, die der Klappentext verspricht.

 

 
Vier von fünf Ballen.