Mats Olsson: Demut

 
Demut von Mats Olsson

Aus ökologischen Überlegungen (mehr dazu hier) und praktischen Gründen (meine Billys sind wegen Überfüllung geschlossen) lese ich vor allem E-Books, doch im Fall von Mats Olssons „Demut“ habe ich mich gefreut, mal wieder ein gedrucktes Exemplar in den Händen zu halten. Das liegt weniger an den stolzen 731 Seiten des Romans als an der Aufmachung: Das ohnehin ansprechende Cover weist 3D-Elemente auf, von denen ich vor, nach und sogar während der Lektüre kaum die Finger lassen konnte. Dass die Schmutztitelseite ohne Kurztitel, sondern stattdessen wie ein Kuvert daherkommt, verwirrt auf den ersten Blick, passt aber recht gut zum Protagonisten und Technikverachter Harry Svensson.

Klappentext (vom btb-Verlag):

Das hatte er sich anders vorgestellt: Harry Svensson, Exreporter einer Stockholmer Zeitung und angehender Kneipenwirt, hat sich in Malmö mit einer Weinhändlerin verabredet – doch aus der gemeinsamen Nacht wird nichts. Ulrika Palmgren überlegt es sich im letzten Moment anders und setzt ihn vor die Tür. Statt speziellen Sex gibt‘s ein lädiertes Ego und eine gebrochene Nase. Als er notdürftig verarztet in sein Hotel zurückkehrt, entdeckt er im Nachbarzimmer, dessen Tür lediglich angelehnt ist, den bekannten Blues-Sänger Tommy Sandell, der seinen Rausch ausschläft – neben ihm die Leiche einer Frau. Die Ermittlungen der Polizei in dem Mordfall wollen nicht so recht vorankommen. Nur eins ist sicher: der Musiker war es nicht. Svensson betreibt derweil seine eigenen Recherchen. Als es wenig später in Göteborg zu einem ähnlichen Fall kommt, ist Harry Svensson sich sicher, dass man es mit einem Serienmörder zu tun hat …

Direkt zu Beginn eröffnet Svensson als Ich-Erzähler den Themenkomplex, der den ganzen Text durchzieht: Bestrafung und Spanking. Dabei sorgen der trockene Humor des Protagonisten und seine merk-würdige Begegnung mit einer gewissen Ulrika Palmgren für einige Lacher, die einem erst nach und nach im Hals stecken bleiben, als die Handlung sich langsam in Richtung Thriller bewegt. Eine adrenalingeladene Achterbahnfahrt sollten Leser*Innen dennoch nicht erwarten, wenn sie nicht enttäuscht werden wollen – während Henning Mankells Geschichten aufgrund von detailliert geschilderten Innenansichten oftmals einer Bimmelbahn gleichen, geht das ähnlich langsame Tempo bei diesem Schweden auf die ausgedehnte Tour des Protagonisten durch sein Heimatland zurück, die zudem mit diversen Erinnerungen und überraschenden Begegnungen ausgeschmückt wird. Wobei Schmuck eher die Ausnahme darstellt: Es sind meist verlebte Menschen, die ein ereignisloses bis unglückliches Leben geführt haben oder führen, die den Journalisten/Ex-Journalisten umgeben. Dass besagte Personen sowohl in der Provinz als auch in den Städten auftreten, passt zu Svensson, der offenbar selbst weder im einen noch im anderen Umfeld glücklich werden kann. Wie ich in früheren Rezensionen bereits angemerkt habe, scheint dem Essen in Schweden eine extraordinäre Bedeutung zuzukommen. Und so verwundert es nicht, dass Svensson zukünftig in der Gastronomie arbeiten will, wenngleich er sich über die Einzelheiten noch im Unklaren ist.

Ein weiteres Merkmal neben Harrys stark ausgeprägter Technikverachtung (die ihn natürlich nicht davon abhält, einen iPod zu besitzen) ist der Umstand, dass er seine Nase immer noch mehr oder weniger professionell überall hineinsteckt, obwohl er nicht mehr Redakteur sein möchte – und dabei das Beste für sich herausholt. Er ist weder Held noch Antiheld und bleibt auch hinsichtlich vieler anderer Aspekte in einer Grauzone, die besser hätte ausgeleuchtet werden können.
Da er in erster Linie an sich selbst denkt und offenbar keinerlei Berufsethos kennt, sollte sein Weg bereits vorgezeichnet sein, doch am Ende wirkt sein Agieren trotzdem wenig authentisch. Gleiches gilt für die an sich interessant gezeichneten Figuren, die ihn bis zum letzten Plot Point begleiten. Denn während die Handlung sich ab dem zweiten Mord verdichtet, scheint sie ab einem gewissen Punkt nur noch künstlich auf besagtes Ende hingebogen zu werden. Und obwohl in regelmäßigen Abständen die (immer gleiche) Begründung für Harrys Unehrlichkeit genannt wird, überzeugt sie in Anbetracht der ernsten Lage nicht mehr. Außer vielleicht, man betrachtet diesen Mann als einen Jugendlichen im Körper eines Erwachsenen, was aufgrund seines Alters und sonstigen Gebarens eher schwerfällt.

Was mich zunächst ebenfalls irritierte, war die leidenschaftslose Herangehensweise des Täters: Er wirkt wie besessen vom Spanking, eine Einschätzung, die sich über den Verlauf der Handlung noch bestätigt. Dennoch bleibt in der ausführlichen Schilderung des Mords kaum Platz dafür, obwohl seine Fantasien in anderen Szenen deutlich zum Vorschein kommen: „Das Kleid war ihren Schenkel hochgerutscht […] Er hatte schon lange niemanden mehr gesehen, der so sehr nach Strafe verlangte, und er wünschte sich, er hätte mehr Zeit. Sie sollte sich ihr eigenes Birkenreisig schneiden. Die Zweige selbst auszuwählen, die am meisten auf der Haut brannten, lehrte einen die Demut am besten, das wusste er.“ (Mats Olsson: „Demut“)
Möglicherweise ist die verknappte Darstellung allerdings Absicht – so könnte man beispielsweise der Lesart folgen, dass der Mörder nicht durch den Lebenstrieb, sondern allein durch Thanatos motiviert wird.

Trotz meiner Kritik an der Figurenzeichnung habe ich das Buch innerhalb weniger Tage ausgelesen – was an Mats Olssons Meisterschaft liegt, Cliffhanger zu bauen. Und damit meine ich nicht diese krassen Walking-Dead-Cliffhanger, sondern die subtilere Variante, die dennoch die gleiche Wirkung erzielt. Darüber hinaus gefiel mir der bereits erwähnte trockene Humor Svenssons einfach zu gut.

Spannung erzeugen zudem der Perspektivwechsel sowie das Katz-und-Maus-Spiel von Harry und dem Mörder, dessen Sicht aus der dritten Person dargestellt wird. Ein weiterer, sehr sprunghafter Wechsel zwischen ihm und seinem Opfer am Ende des Romans hätte auch formal umgesetzt werden sollen, da man als Leser*In auf diese Weise stark aus dem Lesefluss geworfen wird. Als Schlüsselszene, die sich so lange anbahnt, hätte sie ohnehin viel detaillierter ausgeführt werden müssen und die üblichen Klischees dabei zumindest ein Stück weit verlassen sollen.
Fazit: Ein Thriller, der die Bezeichnung eigentlich nicht verdient und trotzdem fesselt.

 

 
Noch vier von fünf Ballen.