Joe Hill: Christmasland

Christmasland von Joe Hill

Wenn der Sohn von Stephen King ebenfalls schreibt, sollte man sich das nicht entgehen lassen – dachte ich schon lange und fand trotzdem nie die Zeit dafür, meinen ersten Roman von Joe Hill zu lesen. Ich glaube nicht an Neujahrsvorsätze oder ähnlichen wiederkehrenden Blödsinn, dennoch habe ich es nun (mit etwas Sicherheitsabstand zu Weihnachten) geschafft, mich dem „Christmasland“ zu widmen.

Und so viel vorweg: Es wird nicht mein letztes Buch von Joe Hill (Joseph Hillstrom King) sein – aber vielleicht werde ich mich das nächste Mal einem kürzeren Text zuwenden. Denn die stolzen 800 Seiten unterhielten mich zwar größtenteils, doch weniger wäre an manchen Stellen mehr gewesen.

Klappentext (vom Heyne-Verlag):

Charlie Manx ist ein sehr, sehr böser Mann mit einem sehr, sehr bösen Auto. Er entführt Kinder nach »Christmasland«, wo ewige Weihnacht herrschen soll. Die Kinder erwartet dort jedoch etwas Schreckliches, und es gibt keinen Weg zurück. Mit seinem Meisterwerk moderner Fantastik entführt uns der mehrfach preisgekrönte Bestsellerautor Joe Hill auf einen unvergesslichen Horrortrip.

Vicky, für ihren Vater einfach nur »das Gör«, hat die geheime Gabe, Dinge zu finden – verlorenen Schmuck, verlegte Fotos, Antworten auf unbeantwortbare Fragen. Dazu muss sie sich einfach nur auf ihr Fahrrad schwingen. Über die nahe gelegene alte Holzbrücke gelangt sie dann im Handumdrehen, wohin sie will, an all die meilenweit entfernten Orte, wo sich das Verlorene befindet. Der Kleinen ist klar, dass andere (ihre Eltern!) darüber nur ungläubig den Kopf schütteln würden. Sie glaubt es ja selbst nicht richtig.

Auch Charlie Manx hat eine spezielle Gabe. Er ist so in Kinder vernarrt, dass er sie gleich dutzendweise kidnappt. Über verborgene Wege bringt er sie in seinem unheimlichen Rolls-Royce nach »Christmasland«, wo er ewige Weihnacht zu feiern verspricht. Und da Vicky immer wieder Ärger anzieht, ist es kein Wunder, dass sich ihre Wege und die von Charlie irgendwann einmal kreuzen. Aber sie ist gewitzt genug, dem Häscher zu entkommen.

Das ist jetzt Jahre her, und aus dem einzigen Kind, das Charlie je entwischen konnte, ist eine junge Frau geworden, die am liebsten alles vergessen würde. Nur dass Charlie niemand ist, der etwas vergisst. Eines Tages nimmt er Vicky das Wichtigste in ihrem Leben. Kann sie es wiederfinden? Ein gnadenloser Kampf entbrennt, und Vicky will nur eines: Charlie endgültig vernichten …

Die ersten Seiten von Joe Hills „Christmasland“ tröpfeln in scheinbarer Idylle vor sich hin, bis ein Ereignis – für Menschen mit bildlicher Fantasie ein gelungener Jump-Scare – den Damm bricht und einen Fluss von Informationen auf die Leser*Innen loslässt.

Anstelle einer Vertiefung oder Auflösung folgt ein Zeitsprung – zurück in die Vergangenheit und zu besagtem Troublemaker Vicky, die von ihrem Vater nur das Gör genannt wird und sich damit am ehesten zu identifizieren weiß. Die im Prolog verloren gegangene Idylle kehrt nicht wieder, das wird schnell deutlich. Und genau aus den Schwierigkeiten, den wenig perfekten Menschen ergibt sich die Kulisse, die den gesamten Roman einrahmt. Hier lauern keine Abgründe à la Jack Ketchum, wie zum Beispiel in „Beuterausch“, aber dennoch sperrige Charaktere, über deren detailverliebte Darstellung man trotz des guten Spannungsbogens nicht einfach hinwegliest. Stattdessen konnte ich zwischen all den interessanten Figuren wunderbar verweilen – der nächste große Knall lässt sowieso nie lange auf sich warten.

Angesichts ihres verlorenen Enthusiasmus und all den Problemen, die noch schlimmer ausfallen, als man aufgrund ihrer Verwebungen zu Charlie Manx ohnehin annehmen würde, verwundert es nicht, dass das Gör im Erwachsenenalter ganz schnörkellos als Vic bezeichnet wird. Aus dem Verlust ihrer grenzenlosen, vormals Grenzen überschreitenden Fantasie und der Abwendung von ihrem Vater wird also kein Hehl gemacht. Obwohl Vic den größten und – abgesehen von Manx – dunkelsten Teil des Eisbergs ausmacht, ist weder die Familie, der sie entstammt, noch jene, die sie gründet, vor dem alltäglichen Scheitern gefeit.

Am meisten berührte mich bei der Lektüre jedoch das Schicksal von Margaret Leigh (Maggie), einer in vielerlei Hinsicht ungewöhnlichen Bibliothekarin, die sich selbst als „Mitleidjunkie“ bezeichnet und ebenfalls einen sehr hohen Preis für ihre Besonderheit und all ihr Wissen bezahlt. Von ihr erfahren sowohl die Leser*Innen als auch Vic, welches Prinzip ihren fantastischen Abenteuern zugrunde liegt. Der letzte gemeinsame Ausflug von Maggie und Vic in die Bibliothek von Hier, Iowa hat mich emotional sehr getroffen – menschliches Drama kann der Autor …

Lediglich bei den skizzierten Ermittlern haben sich in alter Thriller-Tradition ein paar zu viele Klischees eingeschlichen, die das Lesevergnügen etwas trüben. Apropos: Ja, Heyne listet Joe Hills „Christmasland“ als Thriller, allerdings entsprechen einige der Schilderungen eher dem Horrorgenre, wodurch der Roman auf mich einen besonderen Reiz ausmachte. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass dir das noch nicht bewusst ist – der fantastischen Literatur sollte man auch nicht unbedingt abgeneigt sein, wenn man sich der Lektüre hingeben möchte. Mit der erfrischend schnoddrigen Maggie als Vermittlerin ist das Risiko jedoch gering, sich in oder zwischen den verschiedenen Sphären zu verirren:
„Im Großen und Ganzen ist die reale Welt ziemlich sch-sch-scheiße. Aber wir leben auch in der Welt in unserem Kopf. In der Ingestalt, der Welt der Gedanken. In dieser Welt ist jede Vorstellung eine Tatsache. Gefühle sind so real wie die Schwerkraft, Träume so bedeutsam wie Geschichte. Kreative Menschen, wie zum Beispiel Schriftsteller oder Henry Rollins, verbringen viel Zeit in ihrer Gedankenwelt. Starke Kreative können die Nähte zwischen den beiden Welten mit einem Messer auftrennen und von einer in die andere gelangen. Dein Fahrrad. Meine Scrabble-Steine. Das sind unsere Messer.“ (Joe Hill: „Christmasland“)

Der Symbolgehalt der Ingestalten ist enorm: Sei es der Friedhof der Möglichkeiten, die Shorter Way Bridge oder das Christmasland. Gerade im vermeintlichen Paradies lassen sich viele Aspekte erkennen, die wie kleine gesellschaftskritische Klauen aus dem Text herausgreifen und ihre Präsenz bemerkbar machen. Vics Brücke ist dagegen fast ein Ort der Unschuld, was sicherlich auch mit dem jungen Alter zu tun hat, in dem die Ingestalt ihr das erste Mal gewahr wurde. Eng damit verbunden ist ein Aspekt, bei dem ich unweigerlich an Joe Hills Vater denken musste: Der Kampf gegen das Böse gelingt in „Christmasland“ wie auch in vielen Werken von Stephen King durch die Entschlossenheit der Figuren und ihren Glauben an die Wirksamkeit der eigenen Strategie. Vielleicht ist mir diese Ähnlichkeit im Zuge des ES-Remakes besonders aufgefallen – den nächsten Roman von Joe Hill werde ich auf jeden Fall genauer daraufhin untersuchen.

Zwei Punkte muss ich noch an „Christmasland“ bemängeln: Erstens ist die Schilderung der Jagd nach Manx teilweise sehr zäh, nicht zuletzt, weil Vickys Motorrad ständig schlingert, einen Satz nach vorne macht oder der Auspuff ein Stöhnen von sich gibt, wenn sie nach einer freiwilligen oder unfreiwilligen Pause den Kickstarter betätigt. Die Vorbereitung des Showdowns hätte etwas knapper ausfallen können und der Autor für all die Szenen mit der Maschine eine der Motorradliebhaberin und -kennerin Vic angemessen abwechslungsreiche Sprache finden sollen. Zweitens, was aufgrund der sonstigen handwerklichen Finesse von Joe Hill zunächst gar nicht so stark auffällt, ist der Roman extrem vorhersagbar; sogar die vermeintlich irrationalen Handlungen konnte ich jedes Mal vorab erahnen.

Zu guter Letzt wartet „Christmasland“ mit einem Epilog voller Kitsch auf – und führt noch einen zweiten Epilog an, der sich als „Eine Anmerkung zur Schrift“ tarnt. Diese Variante ist kurz, knapp und bösartig – seine Kompromisslosigkeit hätte auch dem Roman an der einen oder anderen Stelle gutgetan!

 

 
Vier von fünf Ballen.