Klappentext (von Heyne Hardcore):
„Sie ist die letzte Überlebende eines Kannibalenstamms, der jahrzehntelang die Ostküste der USA in Angst und Schrecken versetzte. Geschwächt und verwundet gerät sie in die Gewalt des tyrannischen Familienvaters Cleek. Der Sadist Cleek versucht, die wilde Frau zu »zähmen«, wobei er seine Familie als Komplizen missbraucht. Doch er hat den Überlebenswillen seiner Gefangenen unterschätzt. Bevor sein Experiment zu Ende ist, werden alle Unaussprechliches durchleiden müssen.“
„Die Erde hat eine Faust, doch sie hat auch eine offene Hand.“
Diese weisen Worte stammen von der ansonsten eher schweigsamen Frau ohne Namen, die dementsprechend als „Die Frau“ bezeichnet wird. Auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf trifft sie auf einen Wolf, der sowohl ein Spiegelbild ihrer aktuellen Lage als auch eine Vorwegnahme späterer Ereignisse ist. Wie der Wolf lebt sie ohne Rudel, wenngleich aus anderen Gründen. Sie überlebte zwei Mal als einzige einen Angriff auf ihren Stamm: Bei der Kannibalin handelt es sich um die Figur, die im zweiten Teil als „Älteste“ bezeichnet wird, also um die Überlebende des Massakers in “Beutezeit”. Das erkennt man einerseits an den allgemeinen physischen Merkmalen wie ihrer enormen Größe und Stärke, andererseits löschen zwei auffällige Narben, von der Hüfte bis zur Brust bzw. über dem Auge, jeden Zweifel an ihrer Identität aus. Zudem erinnern einige Zitate deutlich an die Betrachtungen aus “Beutegier”, die fast nur hinsichtlich ihres Namens variieren:
Vergleich der Textstellen
(Jack Ketchum: Beutegier)
Außer wenn Kraft mit Schönheit gleichzusetzen ist.
(Jack Ketchum/Lucky McKee: Beuterausch)
Ohne die anderen Jäger, von denen sie sich durch ihr Alter oder ähnliche Merkmale abgrenzen ließe, kann sie nicht mehr als „Die Frau“ sein. Und wie dem Wolf wird ihr das Alleinsein zum Verhängnis.
Der dritte Teil der Trilogie bot mir das intensivste Leseerlebnis der Romane. Einerseits liegt das an den Charakteren, die (noch) weniger oberflächlich beschrieben werden und zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Identifikation bilden. Andererseits ist es aber auch das längere Verharren in der Szenerie der vermeintlich zivilisierten Welt, die selbst schon genug Horror zu bieten hat, bevor das reichlich narzisstische und gewaltbereite Familienoberhaupt Chris Cleek die Kannibalin entführt und in den Keller sperrt.
Während er Frau und Kinder die meiste Zeit ohne Probleme oder Widerstand dominiert, ergibt sich „Die Frau“ nicht als sein Opfer, wodurch sich ein spannendes Ringen zwischen den beiden entwickelt. Leider gesteht das Autorenduo (Jack Ketchum schrieb die zweite Fortsetzung zeitgleich und in Zusammenarbeit mit Lucky McKee als Drehbuch für den Film „The Woman“) diesem Machtkampf nicht ausreichend Raum zu. Außerdem fehlt durch das veränderte Setting die Atmosphäre der vorhergehenden Romane, die vom wilden Terrain zwischen Wald und Küste lebte.
Chris Cleek ist zwar ein kontrollliebender Sadist, doch er will sich nicht eingestehen, dass er weder seine Familie noch die Finanzen vollständig beherrscht – die ersten Risse in seiner Scheinwelt offenbaren sich schon früh durch die Perspektive seiner pubertierenden Tochter Peggy. Deshalb wartete ich beim Lesen oder eher Verschlingen des Romans auf den baldigen Einsturz der Fassade, der später als erwartet, aber dafür umso plötzlicher erfolgt. Sein Sohn ist ihm ähnlich genug, um ebenfalls ein sexuelles Missbrauchs-Interesse an der vermeintlich wehrlosen Frau zu entwickeln, während Gattin Belle passiv bleibt, die jüngste Tochter zu lieb für die Welt ist, und Peg – die von ihrem Vater am meisten zu erleiden hatte – eine folgenreiche Entscheidung trifft.
Wenn man von dem brutalen Finale absieht, das diese Bezeichnung mehr als verdient, spielt sich der Großteil der häuslichen Gewalt entweder in der Vergangenheit oder zwischen den Zeilen ab. Ein gut gehütetes Geheimnis, auf das zuvor mehrmals angespielt wurde, offenbart sich ebenfalls am Ende und führt ein weiteres Mal die Verkommenheit und Mittäterschaft der Cleek-Familie vor Augen, wodurch sich der Schrecken, den „Die Frau“ verursacht, äußerst relativiert und sie beinahe einer Retterin gleicht.
In der nachfolgenden Kurzgeschichte „Das Vieh“ wird diese auch Be-an (= gälisches Wort für ‚Frau’) genannt. Leider handelt es sich hierbei nicht um die Vorgeschichte des Menschen, den man im zweiten Teil als „Das Vieh“ kennenlernte, was mich zunächst enttäuschte. Stattdessen fungiert der Text eher als Epilog, denn er spielt nach dem Ende von “Beuterausch” und gibt dabei interessante Einblicke in das weitere Leben der Kannibalin. Ich kann nicht näher auf den Inhalt eingehen ohne zu spoilern, daher verbleibe ich mit einer deutlichen Leseempfehlung sowohl für den Roman als auch für die Kurzgeschichte.
Vier von fünf Ballen.