Jack Ketchum: Beutezeit

Beutezeit von Jack Ketchum

„Beutezeit“ beweist, dass die Darstellung von Kannibalen-Horror nicht so stumpf und stupide sein muss, wie man aufgrund zahlreicher schlechter Filme (und natürlich auch Bücher) annehmen könnte.

Zwar wartet das Setting mit den gängigen Klischees auf, doch Ketchum füllt sie mit Leben, anstatt sich in Stereotypen zu verlieren. An einigen Stellen hatte ich das Gefühl, er greift absichtlich auf abgedroschene Typen, Szenen und Szenarien zurück, um sie auf den nächsten Seiten zu dekonstruieren. Ein Beispiel dafür findet sich bereits am Anfang des Romans, als das Motiv der flüchtenden Frau aufgegriffen wird. Diese ist, wie im Horror-Genre üblich, von Wald und Finsternis umgeben und trägt – auch das ist ein alter Hut – nur ein dünnes Sommerkleid, das sich allmählich auflöst. Doch sie fällt nicht im entscheidenden Moment hin, um daraufhin von ihrem übermächtigen Verfolger verschleppt zu werden. Stattdessen kämpft sie mit den geringen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, nicht heroisch wie eine Lara Croft, sondern wie ein Mensch, dem die Wahl zwischen Leben und Tod aufgezwungen wurde. Bei ihren Häschern handelt es sich darüber hinaus nicht um Kettensägen-schwingende Mutanten: Es sind nur Kinder, die mehr als die Empathielosigkeit ihrer Autoritäten übernommen haben.

Klappentext (von Heyne Hardcore):

„Drei junge Paare wollen eine Urlaubswoche in einem abgelegenen Ferienhaus an der amerikanischen Ostküste verbringen. Was sie nicht wissen: Die Gegend wird von einer Gruppe Verwahrloster heimgesucht, die unter primitivsten Bedingungen leben und Urlauber nur als Beute betrachten. Die Jagd beginnt …“

Wer Bücher wie Blutrot und Evil gelesen hat, weiß um Jack Ketchums Vorliebe, Horror in provinziellen, oft bieder wirkenden Nachbarschaften zu verorten. Die Risse in der Idylle sind dabei schon früh sichtbar, bis sie im Verlauf der Geschichte zu maßloser Gewalt eskalieren. Auch in Beutezeit gibt es Anspielungen darauf, dass die vermeintliche Zivilisation nicht viel gesitteter ist als es die Welt der Barbaren. Die Bösartigkeit der „normalen“ Menschen im Gegensatz zum kühlen Rationalismus der Menschenfresser, für die das energiereiche Essen und nicht das Töten im Vordergrund steht, zeigt sich in den Folgeromanen „Beutegier“ und „Beuterausch“ besonders deutlich; angelegt ist die beschriebene Sichtweise schon im ersten Teil der Trilogie.

Seine beunruhigende Atmosphäre verdankt der Roman auch einem intertextuellen Einschub: Zusammen mit Carlas Schwester Marije erfährt der Leser aus der „Monographie über die Wälder von Maine“, wie der Background des Kannibalenstamms aussehen könnte. Denn dieser lebt in besagter Region an der Küste von Dead River, und damit in der Nähe des Ferienhauses von Carla.
Der zweite Teil stellt das restliche Personen-Inventar der Beuteseite vor, mit allen Eigenheiten, Schwächen und ein wenig lebensgeschichtlichem Hintergrund. Auch zu den Jägern folgen kurze Einführungen, wenngleich ich gestehen muss, dass ich mir kein ganzheitliches Bild der Individuen machen konnte. Das kann an meinem Lesetempo gelegen haben – oder daran, dass der Autor die Intention, ein Kollektiv ohne unterscheidbare Mitglieder darzustellen, gekonnt umgesetzt hat. Es ist eher die Lebenswelt der Kannibalen, die in Erinnerung bleibt: Schadenfreude als einzige Gefühlsregung, der nach einfachsten Prinzipien gestaltete Raum ihrer Höhle, und natürlich der dort baumelnde Käfig mit einem Achtzehnjährigen als ihrem Gefangenen.

„Das Festmahl hatte schon fast begonnen. Die Beute hing an einem Holzspieß über dem Feuer. Die schlaffen Lippen des dünnen Mannes glänzten feucht. Mit dem Messer hatte er ihr die Kopfhaut abgezogen und Leber und Nieren beiseite gelegt, während der andere Mann die Äste von einer jungen, biegsamen Birke abschnitt und sie am oberen Ende spitz zuschnitzte. Gemeinsam durchbohrten sie ihren Fang mit dem Spieß, banden Arme und Beine zusammen und hievten ihn über das Feuer. Jetzt brachte sie das köstliche Aroma zum Lächeln. Geduldig lauschten sie auf das Knacken und Platzen der Knochen und auf das Zischen des Fetts.“ (Jack Ketchum: „Beutezeit“)

Der Einbruch der extremen Gewalt findet sich auch formal durch einen Absatz in Teil 3 wieder und reißt Protagonisten wie Leser aus der Normalität, die Ketchum zuvor fast schon ermüdend detailreich aufgebaut hat. Der Überlebenskampf beginnt und wird von dem Gros der Figuren verloren. Das Ende, das in der Erstausgabe gegen den Widerstand des Autors deutlich harmloser ausfallen musste, ist in der neueren Version ein erbarmungsloser Schlag in die Magengrube, wenn sogar die vermeintlich guten Menschen schuldig werden und die tröstende, wenngleich oft unpassende Relativierung des Grauens ausbleibt.

Lediglich die Erzählkonstruktion gibt mir Anlass zur Kritik: Ein auktorialer Erzähler begleitet durch die ganze Geschichte und nimmt die unterschiedlichen Perspektiven seiner Figuren ein – oft im schnellen Wechsel, die an das Medium Film erinnern. Aus Sicht der Kannibalen wirkt die Welt am Anfang vergleichsweise gedankenleer und farblos. Dies erscheint mir durchaus plausibel, da ihre Lebens-, Sprach- und Gedankenwelt enorm begrenzt ist, doch im Verlauf der Romanhandlung wird der entsprechende Erzähler immer ausufernder und bildhafter, sodass die Perspektive nicht mehr zum Beginn passt. Eine konsequentere Erzählweise wäre ansprechender gewesen und hätte dem Roman einen noch stärkeren Sog in die für den Leser so befremdende Welt verliehen.

 

 
Vier von fünf Ballen.