Jack Ketchum: Beutegier

„Der Grund, warum ich glaube, dass es wieder losgeht, ist der Zustand der Leichen. Alle fleischigen Körperteile fehlen, wenn du verstehst, worauf ich hinauswill.“

Und das versteht der ehemalige Sheriff George Peters, an den diese Worte gerichtet sind, ausgesprochen gut. Denn er war an der Beinahe-Auslöschung der Kannibalen vor elf Jahren beteiligt, nachdem er zuvor den schrecklichsten Tatort seines Lebens gesehen hatte. Zwar gibt es mit ihm einen leidenden Helden – er ist nicht mehr im Dienst, seine Frau verstorben, außerdem trinkt er zu viel Alkohol, um Einsamkeit und Erinnerungen zu verdrängen –, doch ansonsten nimmt Beutegier die Quintessenz des dritten Romans “Beuterausch” vorweg: Fast alle Männer sind egoistische und destruktive Menschen, und die dünne Decke der Zivilisation springt ihnen bereitwillig von den Schultern. Die weiblichen Figuren wirken zunächst ebenfalls wenig heldenhaft, sind sich ihrer Schwächen und Fehler aber zumindest bewusst.

Die Kannibalen werden dadurch nicht ungefährlich, doch ihnen fehlt – mit Ausnahme der Kinder – die Boshaftigkeit. Namen wie „Erstgeraubter“ und „Zweitgeraubte“ geben einen deutlichen Hinweis darauf, wie die überlebenden Kannibalin „Älteste“ ihren Stamm wiederaufgebaut hat. Die im Vergleich zu “Beutezeit” ausführlichere Charakterisierung der (einst verschleppten) Mitglieder erlaubt es, sie als Individuen wahrzunehmen. Zweitgeraubte wird im Kontrast zu ihren Lebensumständen als unerwartet emotionales Mädchen beschrieben, für das sich leicht Mitleid empfinden lässt – auch Älteste erkennt Zartheit und Anmut in ihr. Ihre Erinnerung an die Entführung und gewaltsame Integration von Zweitgeraubter, als diese ein sechsjähriges Kind war, kann trotz ihrer eigenen Distanz nicht über die Grausamkeit der Tat hinwegtäuschen. Dagegen weist Erstgeraubter schon als Junge die typischen Anzeichen eines Soziopathen auf, womit ein weiteres Mal die bereits erwähnten Geschlechterstereotype untermauert werden.

Der Lichtblick auf die Menschheit durch das fast unverschämt glückliche Pärchen David und Amy Halbard währt natürlich nicht lange, denn mit Amys Freundin Claire und ihrem Kotzbrocken von Ehemann Steven erhält die vertraute menschliche Schattenseite Einlass in ihr Leben bzw. ihr Haus. Je mehr ich über Steven Carey erfuhr, desto sehnlicher wünschte ich mir die Kannibalen herbei – der Twist, der sich bei ihrem tatsächlichen Aufeinanderprallen ergibt, trifft den Leser als typischer Ketchum-Haken mit voller Wucht.

George Peters’ persönlicher Albtraum wandelt während des Handlungsverlaufs zwischen den Zeiten: Seine Erinnerung an die letzte Begegnung mit den Menschenfressern wird immer wieder durch Trigger wie den aktuellen Tatort ausgelöst, bei dem blutige Details nicht ausgespart werden:
„Wie das Mädchen auf dem Beistelltisch war auch die Frau nackt und hatte keine Arme und Beine mehr. Im Brustkorb klaffte ein riesiges, rücksichtslos aufgerissenes Loch. An der Stelle, wo das Herz hätte sein sollen, war nur noch gähnende Leere. Der Schädel war gespalten, die Hirnmasse fehlte. Die Eingeweide lagen über dem Linoleumboden verstreut.“

Die Hatz der Kannibalen geht mit der Jagd der Polizei auf sie einher; die Jäger werden also erneut zu Gejagten. Nachdem der Roman einmal in Fahrt gekommen ist, behält er sein rasantes Tempo bei. Zahlreiche (Beinahe-)Konfrontationen zwischen den verschiedenen Gruppen und moralische Dilemmata folgen, wenn Sicherheit nur darin zu finden ist, den eigenen Freunden gegen die übermächtigen Angreifer nicht beizustehen.
Deshalb, aber auch dank der Erinnerungsfetzen einiger Kannibalen und ihres Langzeitopfers „Das Vieh“, das offenbar eine emotionale Bindung zu Zweitgeraubte entwickelt hat, bleibt die ansonsten relativ dünne Handlung spannend. Claires Entwicklung vom passiven Opfer zu einer Kämpferin fesselt auf Beute-Seite enorm, was nicht zuletzt der detailreichen Schilderung der Schlüsselszene innerhalb der Höhle geschuldet ist. Abgesehen von ihr gibt es nur wenige interessante Charaktere, sodass ich gerade hinsichtlich des Viehs gerne länger in der Behausung bzw. in den Köpfen ihrer freiwilligen und unfreiwilligen Bewohner verweilt wäre.

 

 
Vier von fünf Ballen.