Hell/Steinmetz (Hrsg.): Ghost Stories of Flesh and Blood

Ghost Stories of Flesh and Blood

Kurzgeschichtenbände habe ich bislang nicht rezensiert, weil ich es schwierig finde, eine stimmige Gesamtbewertung abzugeben, die sowohl allen Geschichten als auch ihrer Zusammenstellung gerecht wird. Nun hat mich jedoch ein Rezensionsexemplar erreicht, zu dem ich nicht nein sagen konnte. Schließlich zeichnet sich meine deutschsprachige Queen of Horror, dir vielleicht besser unter dem Namen Faye Hell bekannt, als Herausgeberin verantwortlich – im Team mit Mario H. Steinmetz, der sich ebenfalls der dunklen Seite der Literatur verschrieben hat.

Faye, die mit ihren intertextuellen Bezügen gerne Rahmen spannt und sie an anderer Stelle wieder durchbricht, begrüßt die LeserInnen in ihrem Vorwort … natürlich mit einem Verweis auf ein Werk der Weltliteratur. Mit einem Zitat aus Dantes göttlicher Komödie heißt Sie uns im Geisterhaus willkommen, um dann einen Bogen zum „New American Gothic“ zu schlagen. Was es damit auf sich hat?
„New American Gothic, das ist, als hätte Bryan Smith seine herrlich widerwärtigen Obszönitäten in den narrativen Rahmen eines Edgar Allan Poes eingebettet.“ (Faye Hell: Vorwort von „Ghost Stories of Flesh and Blood“)
Treffender kann man es kaum formulieren. Und die Beschreibung richtet die Scheinwerfer punktgenau auf das, was auf den folgenden Seiten lauert. In mehr oder weniger enger Anlehnung an das Motiv des Haunted House wartet hier ein Potpourri aus tragischen, dramatischen und grausamen Szenarien. Oder, wie der Zweite im Bunde des Herausgeber-Teams sich ausdrückt: Die Anthologie „erfüllt düstere Begierden, stößt wenige Seiten weiter in schmierig-glitschiger Weise ab, um sich danach albtraumhaften Sequenzen hinzugeben.“ (M. H. Steinmetz: Vorwort von „Ghost Stories of Flesh and Blood“)

Natürlich finden sich auch in dieser Kurzgeschichtensammlung Texte, die mich mehr ansprechen als andere – der eigene Geschmack liest immer mit. Dennoch hat mich das Gesamtbild, gerade in seiner Vielfalt, positiv überrascht. Hier dürfte tatsächlich jeder Fan von Horrorliteratur auf seine Kosten kommen, wenn Schwarze Romantik von einer beschaulichen Menge Blut, sexuellen Freizügigkeiten und – zum Teil politisch aufgeladener – Ironie überflutet wird.

Heißt es in der Erzähltheorie oft: „Wer spricht?“, befasse ich mich in diesem Fall lieber mit der Frage: „Wer denkt sich sowas eigentlich aus?“
Vermutlich bist du schon über einige der AutorInnen gestolpert, die sich hier Feder und Blut Tinte in die Hand geben: M. H. Steinmetz, Faye Hell, Melanie Vogltanz, Jacqueline Mayerhofer, Claudia Rapp, Simona Turini, Jana Oltersdorff, Anja Hansen, Michaela Harich, Vanessa Kaiser, Thomas Lohwasser, Thomas Karg, Thomas Williams, Marc Hartkamp, Vincent Voss, Benjamin Verwold und Torsten Scheib.

Klappentext (vom Papierverzierer-Verlag):

Alles begann mit dem Blut in der Kloschüssel.
Das sagenumwobene Haus am Ende der Straße, mitten im Wald, neben dem Friedhof …
Du denkst, du weißt alles über dieses Haus und seine dunklen Geheimnisse?
Du irrst dich.
Tritt ein, schau dich um, hör ganz genau hin.
Es ist nicht das alte Gemäuer, das deinen Namen flüstert.
Achtzehn Autoren.
Sechzehn Geistergeschichten.
Grausam und melancholisch.
Verstörend und grotesk.
Grusel inklusive.
Zwischen Tradition und Rebellion lauert die Angst.

Besagtes Bild von der Feder, die – in Blut getränkt – die Runde macht, kommt übrigens nicht von ungefähr: Wie beschrieben schlägt die Anthologie eine Brücke zwischen der Tradition schwarzromantischer Gruselmotive und modernem Horror, der mehrfach in seiner extremen Gestalt auftritt. Vor diesem Hintergrund kann man schon einmal davon absehen, dass die meisten AutorInnen ihre fiktiven Welten kaum noch per Hand aufzeichnen, und sich gänzlich der verstaubten Vorstellung von der schreibenden Zunft hingeben.

Innerhalb der einzelnen Kurzgeschichten werden diverse Klassiker der Schauerliteratur meist in ein modernes Gewand gekleidet, einige wenige Texte wirken dagegen betont zeitlos, beispielsweise „Das Haus am Friedhof“ von Jana Oltersdorff.
Wie spannend sogar Geschichten sein können, von denen man zunächst aufgrund bestimmter prominenter Muster bereits annimmt, ihr Ende zu kennen, zeigt M. M. Vogltanz mit „Nachbarschaft“. Ohne zu viel verraten zu wollen: Ja, die Ausgangsposition wirkt wenig originell und will es vermutlich auch gar nicht sein. Entscheidend ist, dass die Protagonistin sich einfach weigert, so dämlich zu sein wie die meisten ihrer Leidensgenossinnen in der Literatur und im Film; damit trägt sie maßgeblich zum ungewohnten Verlauf der Geschichte bei.

Viele Rezensionen arbeiten sich durch sämtliche Storys einer Anthologie, doch diesen Ansatz verfolge ich nicht. Stattdessen möchte ich dir meine drei persönlichen Favoriten präsentieren:

Karin Elisabeth: „Ausflug ins Moor“
Das Gefühl der Beklemmung, direkt zu Beginn aus Georgs Perspektive geschildert, zieht sich durch den gesamten Text – und je weiter sich die Handlung vollzieht, desto weniger Raum bleibt, um Luft zu holen. Trotz der Szenerie erinnert die atmosphärisch dichte Geschichte an ein Kammerspiel, das die eigene Erwartungshaltung in immer neue Richtungen lenkt und erst zum Ende hin bestätigt. Die bedeutungsschwangere Landschaft, rasche Perspektivwechsel und zahlreiche Umbrüche der jeweiligen Außen- und Innenansichten sorgen für ein hohes Tempo und tragen zur Verwirrung bei, was genau sich da innerhalb oder vielleicht doch zwischen den Zeilen abspielt.
Eine der wenigen Sicherheiten nach der Lektüre: Von dieser Autorin will ich unbedingt mehr lesen. (Und der SUB wächst und wächst …)
Torsten Scheib: „End of the Road“
Ähnlich verwirrt folge ich den ersten Seiten von „End of the Road“ und versuche mir ein Bild von der Protagonistin Deedee zu machen. Doch es wabert und flackert, liefert weitere Informationen und setzt sich puzzlehaft zusammen, um am Ende doch wieder neue Rätsel aufzuwerfen – allerdings im positiven Sinne. Sex und Körperlichkeit sind in jedem Fall zwei Konstanten und in Kombination mit der überzogenen Darstellung der Protagonistin und ihres sich rasch wandelnden Umfelds fühlte ich mich stark an einen meiner Lieblingsautoren erinnert … Wer sich für die oftmals kruden, überdrehten Welten von Bryan Smith begeistern kann, sollte sich diese Kurzgeschichte keinesfalls entgehen lassen.
Faye Hell: „Imaginarium“
Wenn du auf diesem Blog schon häufiger zu Besuch warst, hast du mich bereits als Fangirl von Faye Hell kennengelernt. Neben relativ ausführlichen Rezensionen zu „Tote Götter“ und „Keine Menschenseele“ findest du auf meinem Blog auch ein Interview mit ihr, das sich aus Fragen verschiedener Personen zusammensetzt, die sich unter dem Namen THE COVEN der Anbetung ihrer Meisterin verschrieben haben. Oder so ähnlich 😉
Die liebe Faye lässt es direkt auf den ersten Seiten der Geschichte ordentlich krachen – wer einen empfindlichen Magen hat, der sollte den Text besser nicht zum Frühstück „einnehmen“, auch wenn der Szenenbeginn möglicherweise dazu ermuntert. Wie immer garniert sie eine kunstvolle, bildgewaltige Sprache mit Beschreibungen, die aufgrund ihrer Brutalität und des ausgeprägten Ekelfaktors für viele LeserInnen schwer verdaulich sind. In die Freakshow reihen sich verschiedene Gestalten, die das Leben des Ich-Erzählers Brian beleuchten, das durch einen Jahrmarkt mit seinem „Imaginarium“ auf den Kopf gestellt wird – milde ausgedrückt. Die Verwebung aus mystischen Erscheinungen (oh, ein Rabe … welchen wundervollen Schriftsteller hatte Faye nochmal im Vorwort genannt?), Gore-Elementen und der brachialen Tragik in Brians Biografie ist ein Markenzeichen der Autorin – und überrascht mich dennoch jedes Mal im Hinblick auf die Stimmigkeit und Intensität der Geschichte.
 

 
Fette Beute!
 
Fünf von fünf Ballen.