Diesen Roman musste ich zwei Mal beginnen – was nicht gegen „Tote Götter“ spricht, sondern nur etwas über meine emotionale Instabilität zu dem Zeitpunkt verrät, als ich den ersten Versuch wagte. Anstelle einer Trigger-Warnung möchte ich hier nur die (äußerst persönliche) Empfehlung aussprechen, Faye Hells Roman nicht zu lesen, wenn du kürzlich, aus welchem Grund auch immer, die Liebe deines Lebens verloren hast.
Denn wie die Autorin bereits in „Keine Menschenseele“ auf wundervoll-schmerzhafte Weise gezeigt hat, beherrscht sie das Spiel mit den Emotionen ihrer Figuren und Leser meisterlich. Mit einem etwas dumpferen Gefühlschaos begab ich mich also einige Wochen später erneut mit der Protagonistin Hannah auf eine Reise durch Amerika, wie ich zunächst und äußerst naiv dachte. Dass dieser Trip nach diversen Twists schließlich in einen Albtraum irgendwo zwischen Aldous Huxleys „Brave New World“ und Lewis Carrolls „Alice’s Adventures in Wonderland“ führt, ist nur eines von vielen Beispielen für die enorme Ideenvielfalt der Autorin. Ihre Kreativität kennt auch sprachlich keine Grenzen:
„Der überfüllte Saal drehte sich vor meinen Augen, die Farben brüllten ihr volles Spektrum hinaus, als wollten sie sich in die Ewigkeit ergießen, die disharmonische Kakofonie der unzähligen Gäste rollte in einem plärrenden Crescendo auf einen tosenden Höhepunkt zu, die Gerüche ejakulierten in Ekstase und schossen mir durch meine Nase direkt in mein Gehirn.“ (Faye Hell: „Tote Götter“)
Klappentext (vom Amrûn-Verlag):
Hannah ist unheilbar krank. Nach einer Amerikareise wird sie zusätzlich zu ihren körperlichen Beschwerden von grauenhaften Visionen geplagt. Teuflische Kreaturen bevölkern ihre düstere Albtraumwelt, sogar die Menschen in ihrem Umfeld verändern sich und verfolgen sie.
Mit Hilfe der richtigen Therapie hofft die junge Frau die paranoiden Wahnvorstellungen in den Griff zu bekommen. Sie will die Zeit, die ihr noch bleibt, mit ihrer großen Liebe Lukas erleben, und nicht im erschreckenden Paralleluniversum ihres zerrissenen Geistes gefangen sein.
Doch was, wenn der blanke Horror kein Irrsinn ist, sondern die neue Wirklichkeit und die reale Welt von gestern nur noch eine vergängliche Erinnerung?
Hat Hannah das unsagbar Böse wiedererweckt?
Oder sind es ihre eigenen Dämonen, die sie bekämpfen muss?
Im Gegensatz zum vorhergehenden Roman fokussiert sich Faye Hell diesmal auf den – zunächst – relativ begrenzten Lebensbereich der Protagonistin, anstatt verschiedenste Figuren und Episoden durch eine Erzählerin zu verbinden. Je weiter die Handlung jedoch fortschreitet, desto stärker verliert der Leser das Gefühl, eine überschaubare Welt oder noch vermessener: die Wirklichkeit vor sich zu haben.
Inhaltlich lässt sich wenig sagen, ohne wichtige Spannungsmomente und Wendungen vorwegzunehmen. Daher nur so viel: „Tote Götter“ bietet wesentlich mehr als ein typischer Horror-Roman.
Hannahs Krankheit dient nicht nur als Ausgangspunkt (oder schlimmer: Entschuldigung) für das weitere Geschehen, sie ist ein bedeutender Teil der Geschichte. Vor dieser Lesart evoziert das kannibalistische Motiv nicht allein Assoziationen an religiöse Rituale wie die Eucharistie unter der Vorstellung der Realpräsenz, sondern stellt die verzweifelte Zerstörung des menschlichen Körpers in den Vordergrund, der bei Hannahs Krankheit zum Gefängnis mutiert.
Bewahrt werden sollen dagegen die vergangenen, besseren Tage: Der Kampf der Protagonistin um eine gemeinsame Zukunft mit Lukas lässt das in und außerhalb der Literatur vielfach beschworene letzte Gefecht von Gut und Böse an einigen Stellen beinahe verblassen. Denn die Angst vor dem krankheitsbedingten Verlust der Kontrolle, sei es über Körper oder Geist, geht einher mit der Furcht, auch den Partner hierüber zu verlieren. Trotzdem lauert die Apokalypse fortwährend in ihrem Versteck und wartet auf Einlass.
„Tote Götter“ untergliedert sich in vier Teile:
Teil 1: Erwachen
Teil 2: Schattenkönige
Teil 3: Gift
Teil 4: Offenbarung
Faye Hells Roman vollzieht sich gleichzeitig auf mehreren Ebenen. Sehr deutlich tritt neben der offensichtlichen erkenntnistheoretischen Frage nach der Realität und den Bedingungen ihrer Wahrnehmung ein konsumkritischer Aspekt zutage. Ein Produkt und der übermächtige Konzern dahinter werden von den meisten Menschen vergöttert und von einer Minderheit verteufelt – beide treten natürlich nicht zufällig in Verbindung mit alten Göttern auf. Das Konzept, Kapitalismus als monotheistische Religion zu betrachten, in der sich der erfolgreichste Unternehmer selbst zum Gott kürt und drastisch gegen Ungläubige vorgeht, funktioniert erschreckend gut.
Welches Produkt hierfür gewählt wurde, dürfte zumindest für konsumkritische Menschen und bekennende oder heimliche Ökos keine Überraschung sein. (Allen anderen seien der Film „Bottled Life – Nestlés Geschäfte mit dem Wasser“ und eine Recherche zu den Themen Wasser als Menschenrecht sowie Kauf von Wasserrechten in trockenen Regionen empfohlen.)
Darüber hinaus löst die Sterilität der neuen Wirklichkeit, in der alles in blitzendem Weiß erscheint, sicherlich nicht nur bei mir Assoziationen zu den Produkten und Stores eines bestimmten US-amerikanischen Technologie-Unternehmens aus. Manch einem treuen Anhänger wird zudem ein gewisser religiöser Eifer nachgesagt – ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Die Farbwahl hat auch symbolischen Wert: Fortwährend wird in „Tote Götter“ der Verlust ebenso als Schreckensbild bemüht, wie das Verlorengehen die Rettung sein kann. Bildhaft findet sich diese Dualität in den aufgeladenen Farben Schwarz und Weiß, die zunächst als Gegensätze beschworen und am Ende dennoch aufgehoben werden, wenngleich nicht unbedingt versöhnlich.
Und weil mein Hirn es einfach nicht lassen kann: Zwischen vielen Zeilen blickten mich immer wieder die großen Augen eines Schriftstellers an, der den Wahnsinn zum Strukturelement erhoben hat. Genau, die Rede ist von E. T. A. Hoffmann. „Die Elixiere des Teufels“ weist eine ähnliche Verwebung aus religiösem Kontext, Visionen, phantastischen Anleihen und Wahnsinn auf wie Faye Hells zweiter Roman. Ferner stellt sich bei der Lektüre von „Tote Götter“ die Frage nach dem Wirklichkeitscharakter von Hannahs Sehnsuchtsobjekt. Wer denkt dabei nicht an Nathanael aus Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“?
So anstrengend sich die Lektüre angesichts der detaillierten Beschreibungen, tiefsinnigen Gedanken und allen voran der poetischen Sprache nach einem langen Tag gestalten mag, so ungern möchte man in die Realität des durchschnittlichen Sprachgebrauchs zurückkehren. Denn von der ersten bis zur letzten Seite zeigt sich Faye Hell abermals als großartige Sprachvirtuosin, die den Leser mit intelligenten Wortspielen und natürlich einer Prise schwarzen Humors des Öfteren zum Schmunzeln bringt. Angesichts der beklemmenden Atmosphäre und Thematik ist das ebenfalls eine Leistung.
Fette Beute!
Fünf von fünf Ballen.