Faye Hell: Rigor Mortis – schattenschwarz und totgeschwiegen

Faye Hell: Rigor Mortis

Zunächst ein Geständnis: Ich hatte keine Ahnung, was genau mich in Faye Hells neuem Roman erwarten würde. Alaska, Dawson City, Goldrausch, Dark Western … Klingt alles spannend, doch bislang fehlte mir ein Bezugspunkt. Bislang meint natürlich die Zeit, bevor ich mit der Lektüre von „Rigor Mortis – schattenschwarz und totgeschwiegen“ anfing.

Als Teilnehmerin der Blogtour zu diesem Roman durfte ich schon etwas früher einen Blick riskieren (danke für das Rezensionsexemplar!) – und blieb hängen. Zwar war mir der Anfang bereits von Fayes Lesung auf dem „House of Horrors“ in Oberhausen bekannt, aber was abseits von Richard Darius’ beinahe unerträglich lauter Präsenz auf die Leser*Innen zukommt, ist eine Zeitreise, die als ruhiger, wenngleich eiskalter Fluss beginnt – und in einem vernichtenden Strom endet, der sich dabei aus dem vertrautem Rahmen der bisherigen Romane herauslöst.

Das Changieren des Texts zwischen der Darstellung eines (rauen) Idylls und einer übermächtigen, bedrohlichen Szenerie ist – wie die Liebe zu den USA – ein typisches Merkmal von Faye Hells Werken. Trotzdem spürte ich spätestens ab dem dritten Kapitel des ersten Teils, dass dieser Roman irgendwie anders ist. Zunächst dachte ich, das läge allein an besagtem Handlungsstrang um den Goldrausch am Yukon River (Spoiler-Alarm: Nein, nicht nur.) Denn dort lauert die subtile Bedrohung hinter wunderschönen historisch angereicherten Details und spannenden Charakterstudien, die einen zum Verweilen einladen, ja regelrecht einlullen. Dabei versteckt sich das Unheil so gut im Nebel, dass man es beinahe übersehen könnte. Zumindest, wenn nicht hin und wieder das Grauen sein wahres Gesicht zeigen würde. Ob dieses nun im Menschen oder anderswo verortet wird, muss jede(r) für sich selbst entscheiden.

Klappentext (vom Papierverzierer-Verlag):

Weshalb kümmert es euch, ob Blut an meinen Händen ist, wenn ich euch zum Gold führen kann?
Vor mehr als einem Jahrhundert bekam das Grauen in Dawson City ein Gesicht, denn der mächtigste Mann dieser Stadt schien aus beinah allem zu bestehen, bloß nicht aus Fleisch und Blut.
Jahrzehnte später verfolgt ein erbarmungsloser Schatten, dessen Gestalt mit jedem Tag deutlicher zu erkennen ist, eine Reisegruppe quer durch Alaska. Aus dem Ehrgeiz eines Talkmasters wird fataler Größenwahn. Eine paranormale Ermittlerin trifft auf einen übermächtigen Gegner. Und jede dieser spannenden Geschichten führt zu einer größeren Wahrheit, die hinter allen Dingen verborgen liegt …
Ist “Legende” vielleicht doch nur ein anderes Wort für “ihr wurdet gewarnt”?

1898, Dawson City, Yukon Territory … Abertausende Glücksuchende folgen dem Lockruf des Goldes in das ehemals unbedeutende Holzhüttendorf, das nun von allen ehrfürchtig “Paris des Nordens” genannt wird.
2005, Anchorage, Alaska … Eine Geschichtestudentin bricht mit ihrer sechsköpfigen Reisegruppe auf, um diese auf den Spuren des Goldrauschs durch Alaska und den Nordwesten Kanadas zu leiten.
2017, Los Angeles, Kalifornien … Der charismatische Talkmaster der “Late Night Horror Show” begeistert mit seinen bluttriefenden Interviews das Publikum.
2017, Fairbanks, Alaska … Eine Geisterjägerin erhält den außergewöhnlichsten Auftrag ihrer bisherigen Karriere.

Wer Fayes Texte kennt, weiß, dass sie sehr komplex sind – eine Zuschreibung, die bei Rigor Mortis wie Sachmet zu Bastet passt. Mehrere Handlungsstränge, die sich meist zu unterschiedlichen Zeiten abspielen, aber auch parallel verlaufen können, verschiedene Perspektiven, die alle dazu in der Lage sind, tief zu berühren, und eine oftmals anachronistische Erzählweise bilden die Ausgangssituation, die in traumhaft schöner Sprache mit Leben, Tod und Teufel gefüllt wird.

Doch da ist noch mehr: eine Zwischenwelt, in denen fantastische Wesen hausen und darauf warten, dass ihre Zeit (erneut) anbricht. Denn diese können das, was die meisten Menschen – und damit auch die Figuren – als Realität ansehen, unter Umständen betreten. Und das geht in der Regel auf Kosten der Sterblichen, deren Gier jene Wesen jederzeit und überall einlässt.

Ob bei Romanen oder Filmen: Wenn ich weiß, dass verschiedene Handlungsstränge einer Geschichte darauf ausgelegt sind, irgendwann zusammenzutreffen, finde ich den Weg dorthin oftmals ermüdend, so, als würde ich ständig auf das eigentlich Wichtige vertröstet werden. Bei Rigor Mortis ist das anders. Ja, die Frage nach dem genauen Zusammenhang – schließlich gibt es viele in den Text eingestreute Hinweise – zwischen bestimmten Figuren und Settings begleitet die Leser*Innen auf Schritt und Tritt. Wie bei „Keine Menschenseele“, einem Roman, der noch deutlich episodenhafter ausfällt, fügt sich auch hier erst nach und nach alles zusammen, allerdings kommt dabei niemals Langeweile auf. Dafür sind die einzelnen Handlungsstränge viel zu ausgefeilt. Rigor Mortis vollzieht nicht die gewohnte Vorstellung von Figuren, die lediglich die gemeinsame Mission oder den Kampf gegeneinander vorbereitet. Stattdessen werden Geschichten erzählt, die allesamt Teil von etwas Größerem sind – und keine davon möchte ich gekürzt wissen, zu gerne habe ich sie erkundet und mich ein Stück weit in ihnen verloren.

Apropos verlieren: Hatte Faye es schon mit „Tote Götter“ geschafft, mein Herz zu brechen, gelingt ihr dies mit ihrem neuen Roman erneut. Ich will nicht spoilern – lest Rigor Mortis und denkt im sechzehnten Kapitel von Teil 2 daran, dass ihr von mir gewarnt wurdet, wie süß sich Schmerz anfühlen kann.
Und ohne zu viel vorwegzunehmen: Auch das Ende sitzt … in etwa so wie ein Tantō im Bauch des Samurais.

Das ist aber nicht der einzige Grund, warum ich unweigerlich an frühere Werke der Autorin denken musste. Einerseits findet sich der Titel ihres Erstlings an drei Stellen von Rigor Mortis, andererseits wirkt einer der Protagonisten des aktuellen Romans wie ein Wiedergänger aus „Keine Menschenseele“. Richard Darius und Christian Miller ähneln sich nicht nur in ihrem Sexismus und in ihrer abgrundtiefen Verachtung auf die Welt, auch ihr Gewaltpotenzial zeugt von einer starken Verbindung. (Man könnte sagen, sie stammen von den gleichen Eltern oder vielmehr der gleichen Schöpferin ab.)
Was die selbstreferenziellen Bezüge auf die Spitze treibt, ist der Umstand, dass sich einige Figuren auf ähnliche Weise ausdrücken wie Faye. Die Affinität zu Katzen ist kein Alleinstellungsmerkmal, selbst wenn die Geisterjägerin Jessie sich zu der Äußerung „Bastet sei Dank“ hinreißen lässt und sich laut Thomas unter dem Fauchen der paranormalen Ermittlerin ein Schnurren verbirgt. Werden aber einem Protagonisten wie Darius, vor dessen Monstrosität sogar die Autorin nach eigener Aussage zurückschreckt, ihre Worte in den Mund gelegt, kann es sich kaum mehr um einen Zufall handeln. Ich sah jedenfalls direkt Faye vor meinem inneren Auge, als ich Folgendes las: „Hellcome to my show.“

So wie die letzten beiden Romane wartet auch Rigor Mortis mit zahlreichen intertextuellen Verweisen auf. Darüber hinaus finden sich aber auch einige intermediale Bezüge aus den Bereichen Film und bildende Kunst. Im Rahmen der Blogtour durfte ich diese Aspekte bereits ausgiebig untersuchen – was allerdings nicht heißt, dass der Beitrag alle Referenzen nennt, die das neueste Werk auf kunstvolle Weise durchziehen. Dafür wäre eher das Format einer Bachelorarbeit angebracht 😉

Alternatives Cover für Faye Hell: "Rigor Mortis"

Auffällig im Vergleich zu den ersten beiden Romanen ist der Umstand, dass die vermeintlichen Stilbrüche weniger heftig ausfallen. Changierten „Tote Götter“ und vor allem „Keine Menschenseele“ zwischen kunstvoller Sprache und derben Schilderungen von (sexueller) Gewalt, wirkt Rigor Mortis deutlich ausgeglichener.
Das liegt nicht daran, dass Faye sich brutale Beschreibungen und vulgäre Äußerungen sparen würde. Vielmehr sind sie in den einzelnen Szenen weniger ausführlich dargestellt, und – was vermutlich einen noch größeren Effekt hat – sie verlassen einen bestimmten Rahmen kaum. Es ist Richard Darius, vor dem ihr im Vorwort bereits gewarnt werdet, der beinahe als Garant für Entgleisungen steht und damit eine Art Sicherheitsnetz für die Leser*Innen ausbreitet. Vereinfach gesagt: Wird aus der Perspektive des Ich-Erzählers wiedergegeben, kannst du dir sicher sein, den ein oder anderen Schlag in die Magengrube zu bekommen, während Zerstörung und Vernichtung in den weiteren Handlungssträngen eher durch einen wabernden Nebel wahrgenommen werden – die jedoch nicht der Verzweiflung entbehren, die gleichwohl zwischen allen Zeilen hervorsticht. Wieder einmal stehen (menschliche) Abgründe im Vordergrund, aber auch das Metaphysische als etwas Übermächtiges, das selbst einen überzeugten Nietzsche-Anhänger dessen bekanntes Zitat variieren lässt: „Man muss nicht erst in einen Abgrund blicken, damit dieser durch einen blicken kann.“ (Faye Hell: „Rigor Mortis – schattenschwarz und totgeschwiegen“ )

Ich muss gestehen – „Keine Menschenseele“ gefiel mir hinsichtlich der extremen Schwankungen zwischen dem, was auch das Feuilleton als Kunst begreifen würde, und all den Gewaltexzessen noch etwas besser, da ich mich als Leserin niemals zurücklehnen, sondern jederzeit von brachialster Brutalität eingeholt werden konnte. Dennoch fügen sich die extremen Brüche, die gewiss ohnehin nicht für alle Menschen so eine Offenbarung darstellen wie für mich, nicht in jedes Romankonzept ein.

Für Rigor Mortis ist der nur stellenweise aggressive und ansonsten eher mystische Ton des Romans perfekt gewählt. Die fantastisch-unheimliche Reise führt nicht nur durch verschiedene Zeiten und Schauplätze von Alaska – sie ist auch ein Trip durch die unterschiedlichen Spielarten der Horrorliteratur und scheut weder den Aufenthalt im Western, noch Ausflüge in umkämpfte Gebiete wie die medienkritische Gegenwartsanalyse. Nicht zuletzt liefert Faye mit Rigor Mortis ein weiteres Mal den Beweis, dass sich (dunkle) Unterhaltung, (emotionaler) Tiefgang und (intellektueller) Anspruch nicht ausschließen müssen, sondern sich zu einem besonderen Kunstwerk zusammensetzen können.

 

 
Fette Beute!
 
Fünf von fünf Ballen.