Faye Hell: Keine Menschenseele

„Keine Menschenseele muss der Richtung folgen, die ihr die Verdammnis weist. Doch jeder steht es frei. Und die wenigsten widerstehen.“ // „Ich empfinde keinerlei Reue, dass ich quäle, wofür ich so aufrichtige Zuneigung empfinde, nur weil ich nicht berühren darf, was ich zu vernichten gedenke.“ (Faye Hell: „Keine Menschenseele“)

Schon nach den ersten Seiten ist klar: Der Deutsche Phantastik Preis (dpp) für das beste Debüt ging völlig zurecht an Faye Hell. Der kafkaeske Beginn des Romans, sprach- und bildgewaltig inszeniert, zog mich von Anfang an in den Bann. Anstelle von Kapiteln gliedert sich „Keine Menschenseele“ in fünf Teile, die jeweils eine Episode um einen anderen Charakter enthalten, wobei nicht nur die Ich-Erzählerin – das Zimmermädchen – als Bindeglied fungiert. Sämtliche Figuren und ihre Hintergründe werden so intensiv durchleuchtet, so fesselnd beschrieben, dass der rote Faden zwar nicht abhandenkommt, aber doch in seiner Bedeutung zurücktritt. Schon als Einzelgeschichten sind die Texte hervorragend – als Konglomerat von Verzweiflung, Schmerz und Wahnsinn sind sie genial.

Klappentext (vom Amrûn-Verlag):

Ein Waisenkind findet in einer streunenden Katze einen echten Seelenverwandten, einem charismatischen Fernsehmoderator fliegen alle Herzen zu, für eine junge Frau geht ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung, eine einsame Liebesbuchautorin findet einen Menschen, mit dem sie ihr Leben und ihr Heim teilen kann und jemand ist unterwegs, um sich endlich seinem Peiniger zu stellen. So einfach könnte es sein. Aber nichts im Leben ist so einfach. Fünf Menschen, fünf Leben. Eine gemeinsame Geschichte. Ein gemeinsamer Albtraum.

Eines vorab: Diese Rezension ist wesentlich länger als meine bisherigen Buchbesprechungen. Wer sich nur rückversichern möchte, dass er den Kauf dieses Buchs nicht bereuen wird, der sei auf meine Bewertung am Ende dieses Beitrags verwiesen. (Für die ganz Eiligen: Fünf von fünf Ballen.) In jedem Fall solltest du dir für das Buch Zeit nehmen, denn alles andere wäre eine Verschwendung!

Die einzelnen Teile stehen im Zeichen von Vergessen und Verdrängen auf Zeit und folgen verschiedenen Wegen aus der Einsamkeit, die allzu oft in Wahn und Schuld enden. Im Einzelnen sind das:

Teil 1: Blanke Zahlen
Teil 2: Makellos
Teil 3: Vier Minuten
Teil 4: Stillschweigend
Teil 5: Im Fegefeuer

Zu Beginn stellt sich die Ich-Erzählerin auf beinahe beiläufige Weise vor, da sie sich selbst aus der Perspektive ihres Gegenübers schildert – ihre Mutmaßungen darüber, wie die junge Frau sie sehen könnte, wirken nicht gerade spekulativ. Auch auf den nachfolgenden Seiten zeigt sich, dass die Erzählerin mehr als nur ein Zimmermädchen ist – ihr Wissen kennt offenbar keine Grenzen, während der Leser noch eine Weile im Dunkeln tappt, was es mit ihr und Alexander auf sich hat, auf den vor dem ersten Teil referiert wird, und der darin einen kurzen, fast übersehbaren Auftritt hat. Die angedeutete Wichtigkeit der dieser Szene, die Verbundenheit von Zimmermädchen und der bis dato namenlosen Frau, ist der Grundstein für eine spätere, unvorhergesehene Entwicklung – und verbirgt sich doch lange im Hintergrund, da die Ich-Erzählerin anderen Figuren ihre folgenreiche Aufwartung macht und ihnen Fundstücke aus deren Leben präsentiert, durch die sie alle ihre Vergangenheit einholt.

Zunächst ist es der Pharmareferent Robert, den sie mit seinen verdrängten Erinnerungen heimsucht. In seine Lebensbahn falle ich plötzlich und schmerzvoll ein, während sich die Erzählerin derart zurücknimmt, dass man sie ganz vergessen könnte.
Manchmal möchte ich den kleinen Jungen Robert schütteln, wenn er nicht merkt oder einfach ignoriert, wie sehr er andere durch sein Verhalten schädigt. Die tiefe Einsamkeit, die ihn immer wieder einholt, die er sich aber auch selbst zuzuschreiben hat, bedrückt und lässt mich sogar Mitleid empfinden, was ich nach seinen letzten Begegnungen mit MouchMouch (einer ihm zugelaufenen Katze) nicht für möglich gehalten hätte.

„Makellos“ hat eine ähnliche Struktur wie Teil 1 (gleiches gilt für die nachfolgenden Einzelgeschichten): Die Episode beginnt erneut mit der namenlosen Frau, deren begieriger Wunsch nach Alkohol dem Drang zu vergessen entstammt. Dieser führt sie in die Hotelbar, wobei ihr Weg zugleich die Verbindung zu „Blanke Zahlen“ herstellt und Einblicke in ihr zernarbtes Seelenleben gibt. Hier wartet bereits der Barmann Lloyd, der wie das Zimmermädchen zum Interieur des Hotels gehört und ebenfalls Teil etwas Größerem ist. Fotos von Christian Miller leiten zur nächsten Erzählung über, abermals kurz unterbrochen von Zimmermädchen und entsprechendem Fundstück. Alsbald verliert sich der Leser in einem Abgrund aus Kälte, Gewalt und Verzweiflung, um dort dem metaphysischen Bösen zu begegnen, das der Orgie menschlicher Fehlbarkeiten die Hand reicht. Und wieder ist die Figur so meisterlich inszeniert, dass sie trotz ihrer unfassbaren Schuld Empathie weckt – nicht nur für den Schmerz des Vergangenen, sondern auch für die Leere der Gegenwart.

In „Vier Minuten“ erhält die namenlose Frau ein kleines Stück verstörende Biografie und wird als Karen vorgestellt. Um den Leser nicht in Sicherheit zu wiegen, geschieht das infolge eines deutlichen Zeitsprungs zur vorherigen Episode, denn Christian Miller ist schon lange tot.
Das Zimmermädchen holt ein weiteres Erinnerungssouvenir, dieses Mal für Alice und Max. Mit „Alice hinter den Spiegeln“ wird nicht nur eine literarische Assoziation geknüpft, sondern ein Vorausblick auf das bittere Ende von Teil 3 gewagt. Dazwischen entfaltet sich eine wundersame Geschichte mit den bereits bekannten und oben genannten Zutaten, aber in einer besonderen zwischenmenschlichen Konstellation.

„Stillschweigend“ beginnt mit Karen, die sich immer noch in der Bar befindet und eine Fremde in ihrem eigenen Spiegelbild betrachtet. Die geistige, vielleicht sogar seelische Verbindung zwischen ihr und dem Zimmermädchen wird offenkundig, ebenso wie das grenzenlose Wissen des Barmanns. Verstört verlässt Karen die Bar, findet sich in der Lobby wieder und dort ein Buch – den Liebesroman einer Kathi Cambridge. Die Autorin ist die nächste, aber nicht die einzige Figur, die im gemeinschaftlichen Alptraum durchleuchtet wird.
An manchen Stellen wirkt es fast komisch, wie das Zimmermädchen in Gegenwart von Kurios und Kathi aus ihrer Rolle fällt und dies selbst analysiert und kommentiert: „Beinahe hätte ich gekichert. Kichern! Mach, dass es nicht wahr ist …“ (Faye Hell: „Keine Menschenseele“)
Doch der Kipp-Effekt lässt nicht lange auf sich warten und das Lachen bleibt angesichts der nur angedeuteten, aber dennoch deutlich fühlbaren Tragik im Halse stecken.
Zurück zu Kathi: Wieder umgibt die Figur schon als Kind eine Aura aus Andersartigkeit und tiefer Einsamkeit. Ihr Schicksal scheint allerdings von Anfang an prädestiniert zu sein. Kleine Details lassen das früh vermuten: Beispielsweise tauft sie „Ihr“ Schaukelpferd auf dem Spielplatz, den sie nur alleine besucht, Lucy … Ein Schelm, der dabei an Luzifer denkt. Was jedoch folgt, nachdem die Erwachsene Kathi Cambridge – inzwischen erfolgreiche Bestsellerautorin – den schwarzen Philosophen kennengelernt hat, ist sehr schwer verdaulich, schon bevor der Leser die Geschichte zu Kurios erfährt. Für mich ist „Stillschweigend“ die verstörendste Erzählung von allen, über deren Ende ich noch lange nachdachte. Das liegt auch an den zahlreichen Wiederholungen und Variationen einer bestimmten Szenerie, die sich nicht nur der Figur eingebrannt hat. Ich musste dabei an Raymond Federmans Werke denken, die seine prominenteste Kindheitserinnerung immer wieder und immer wieder anders aufgreifen. Formal weitaus weniger experimentell als „Alles oder Nichts“ und ähnliche Werke weist Faye Hells Roman dennoch an manchen Stellen eine erschreckende Form von visueller Poesie auf, die sie in folgenden Werken hoffentlich noch verstärkt einsetzen wird.

Mit dem Entschwinden Kathis bleibt Karen zurück, deren traumatische Erlebnisse sich kaum zufällig im Zimmermädchen widerspiegeln. Karens Schmerz ist übermächtig, so übermächtig, dass er das einzige ist, woran sie sich festhalten kann. Beim Lesen fällt man hier nicht in einen Abgrund, sondern in einen Strudel, aus dem es lange kein Entrinnen gibt. Erst als sich der Rahmen um die im Präsens spielende Geschichte schließt, erwacht zumindest eine Option auf Hoffnung (wenn man einer positiven Lesart folgt).
Ich liebe offene Enden, wenngleich mich dieses irritiert und berührt zurückgelassen hat. Vermutlich wird es den meisten Menschen ähnlich ergehen und obwohl es Geschmackssache ist, könnte „Keine Menschenseele“ kaum konsequenter ‚beendet’ werden.

Stilistische Brüche verstärken das Wechselbad der Gefühle beim Lesen, da zwischen den detailreichen märchenhaften und dunkelromantischen Beschreibungen immer wieder vulgäre Darstellungen, beispielsweise von sexueller Gewalt, Einzug in die sonstige Eleganz der Sprache erhalten. Und obgleich Faye Hell auch Splatter beherrscht, wie sie an einigen Stellen eindrucksvoll zeigt, entsteht ein Großteil des Horrors aus der gnadenlosen Verzweiflung der Menschen und dem Wahnsinn, der sich daraus ergibt. Manchmal entspringt das Grauen der eigenen Vorstellungswelt, weil nicht alles, was geschieht, in den Sätzen zu finden ist. Stattdessen wird das erschütternde Geschehnis mittels einer cleveren Vorausdeutung suggeriert, wie im Fall von Kurios und Kathi.

Ein einziger Wermutstropfen sind die vergleichsweise häufigen Rechtschreibfehler, die mich doch zwischenzeitlich aus dem Takt gebracht haben. Allerdings darf man nicht vergessen, dass einem Indie-Verlag wie Amrûn nicht die Mittel der großen Publikumsverlage zur Verfügung stehen – während diese wiederum kaum den Mut aufgebracht hätten, Faye Hells Debüt zu veröffentlichen. (Die Kritik bezieht sich auf das E-Book, zur Print-Ausgabe kann ich keine Angaben machen.)
Als Vielleserin und ehemalige Germanistikstudentin schimpfe ich natürlich nicht nur über das wenig zufriedenstellende Korrektorat, sondern erfreue mich noch lieber an den zahlreichen intertextuellen Verweisen, die oft wie eine Quintessenz der jeweiligen Episode auf der Metaebene wirken. Franz Kafkas „Die Verwandlung“ findet sich hier ebenso wie mehrfach Goethe („Faust“ und „Erlkönig“) sowie besagtes Kinderbuch von Lewis Carroll. Außerdem befindet sich die Autorin Kathi auf der Suche nach dem Wahren und dem Schönen, nicht aber dem Guten, denn sie hat sich schließlich mit dem Bösen eingelassen. Kants Moralphilosophie darf neben der zerbrochenen Trias natürlich nicht fehlen. Raymond Federman erwähnte ich bereits als – zumindest rezeptionsästhetische – Referenz, und auch Faye Hells Formulierung „Stell dir das vor!“ bestärkt mich darin, einen Bezug zu „Alles oder Nichts“ zu sehen, da diese Phrase mehrmals in Federmans Roman auftaucht. Überdies gibt es zahlreiche intermediale Verweise auf die Populärkultur des Horror-Genres, allen voran das Hotel als „unörtlicher Ort“, wie das Zimmermädchen es benennt.
Symbolisch aufgeladen als Durchgangsbereich (oder Fegefeuer) ist es lediglich der Schauplatz, an dem die Schulden beglichen werden, denn der eigentliche Pakt mit dem modernen und kalten Mephistopheles wurde an den unterschiedlichsten Orten abgeschlossen.
Überaus spannend ist die Erzählkonstruktion: Die allwissende Ich-Erzählerin erinnert mich in ihrer Art, über Erinnerungsstücke Geschichten zu erfahren, stark an die Arbeit oder Berufung der Schreibenden, denen sich beim Anblick eines alten, verlebten Stofftiers oftmals ein ganzes Feuerwerk an Ideen entzündet.

 

 
Fette Beute!
 
Fünf von fünf Ballen.