Code 403 (Kurzrezensionen)

Nein, das ist keine Fehlerseite – zumindest nicht im eigentlichen Sinne.

Je länger ich das Studium hinter mir gelassen habe, desto stärker fehlen mir die Gespräche über Literatur. Da meine Zeit begrenzt ist und ich nicht immer so ausführliche Rezensionen wie zum Beispiel zu Faye Hells „Keine Menschenseele“ schreiben kann, entsteht an dieser Stelle ein Sammelbecken für kurze Buchbesprechungen, die maximal 403 Wörter aufweisen. Hierbei werde ich zum Teil die Genres verlassen, die ansonsten auf Vertigos Blacklist im Vordergrund stehen … wie mit dem Roman „Guapa“, der den Anfang dieser Serie bildet.

Kurzrezensionen von Vertigo

Saleem Haddad: Guapa

Martin Suter: Die dunkle Seite des Mondes

David Lagercrantz: The Girl Who Takes an Eye for an Eye: Continuing Stieg Larsson’s Millennium Series

Michel Serres: Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall

Saleem Haddad: Guapa

Die Aufmerksamkeit, die das Feuilleton dem Debütroman von Saleem Haddad schenkte, weckte zusammen mit den Schlagwörtern „Arabischer Frühling“, „Homosexualität“ und „Repression“ meine Neugier. Die Unterdrückung meint hier sowohl gesellschaftliche Konventionen, deren religiöse Verankerung und Rechtfertigung keinen Raum zum Atmen lässt, als auch das enorme Schamgefühl des Protagonisten Rasa.

Auf der Suche nach einem Ich, mit dem er selbst leben kann, verliert er sich über die Jahre immer wieder – sein Hintergrund wird an zahlreichen Stellen und oft ausführlich in die aktuellen Geschehnisse eingeblendet, die lediglich einen Zeitraum von 24 Stunden umfassen. Darin besteht für mich das alleinige Manko des Romans: Ein einziger Tag wird der Schilderung von Rasas Liebe zu Taymour gerecht, nicht aber der Darstellung der politischen Ebene. Zwar finden sich auch hier viele Details zu einzelnen Entwicklungen, doch das Gesamtbild bleibt vage. Das ist besonders schade, da es sich bei dem Schauplatz der Erzählung um einen fiktiven Ort im Nahen Osten handelt und dem Autor damit alle Möglichkeiten offen gestanden hätten. Entsprechend bietet „Guapa“ nur im Mikrobereich Lösungsansätze, wie man den Repressionen entgehen oder sich sogar wehren kann. Ein Vorteil dieser Vagheit: Obwohl der Roman die größtenteils negative Haltung der arabischen Welt gegenüber Homosexualität schildert, könnte man das gleiche Resultat in einem anderen Setting wiederfinden: Man nehme die Hochzeitsgesellschaft und die mit einer Spur von Sarkasmus beschriebenen Tischgespräche und verlege sie in ein kleines Dorf nach Bayern, man ersetze den Islam durch die römisch-katholische Kirche und siehe da: Die Akzeptanz oder Ablehnung hängt nicht starr von der jeweiligen Religionszugehörigkeit ab, sondern davon, wie aufgeklärt und selbstbestimmt die Menschen sind. Für mich ist das eine wichtige Quintessenz, da dieser Aspekt in Verallgemeinerungen und Selbstbeweihräucherungen (zum Beispiel durch den ständigen Hinweis auf die vermeintlich westlichen Werte) gerne vergessen wird.

Martin Suter: Die dunkle Seite des Mondes

Martin Suter ist einer dieser Autoren, an denen ich schon unzählige Male vorbeikam, ohne innezuhalten und zwischen den Buchdeckeln zu versinken. Da mir eine Freundin kürzlich „Die dunkle Seite des Mondes“ empfahl, schnappte ich mir den zweiten Roman Suters für den Einstieg.

Der vor allem zu Beginn recht schnörkellose Stil überraschte mich – vermutlich, weil ich aufgrund des aufgeladenen und dennoch poetischen Titels etwas anderes erwartet hatte. Vielleicht nicht unbedingt Pink Floyd in Buchform, aber auch nicht diesen sogar in Beschreibungen um neutrale Sprache bemühte Text. Der passt allerdings sehr gut zu dem Protagonisten Urs Blank, auf den der Roman die längste Zeit fokussiert ist und damit die Sicht einer männlichen, weißen, konservativen und enorm erfolgreichen Person einnimmt. Oder: Die Perspektive eines Langweilers, der zwar irgendwie merkt, dass sein Leben eine Farce ist, aber abgesehen von kleineren Verweigerungen und Aggressionsausbrüchen erstmal nichts dagegen unternimmt. Das erstmal ist hier wichtig, denn mit der Sinnkrise Blanks ergeben sich spannende Entwicklungen, die zumindest etwas mehr Platz für Pluralität zulassen, diesen jedoch keinesfalls ausfüllen. Bestes Beispiel hierfür ist Lucille: Die junge Frau wird zwar als sympathisches Wesen skizziert, aber ihre Charakterisierung weist die Tiefe eines … nein, eigentlich überhaupt keine Tiefe auf. Sie bleibt genauso Klischee wie alle anderen Figuren – Urs eingeschlossen. Gleiches gilt für die geschilderten Erfahrungen mit den halluzinogenen Pilzen und dem alsbald allgegenwärtigen Wald.

Urs’ Charakter verhärtet sich durch die Begegnung mit Lucille beziehungsweise infolge des gemeinsamen Pilz-Trips: Er lässt seinem Dominanzgehabe, seiner Aggressivität und Gleichgültigkeit anderen Menschen gegenüber nun freien Lauf. Das Ausleben der Gewalt erfolgt in mehreren Eskalationsstufen, wobei ich eigentlich nicht von Eskalation sprechen möchte. Dafür passiert zu wenig, sowohl in Urs als auch zwischen den Zeilen. Wie in einer Choreographie, die zwar komplett durchdacht, aber ohne Herzblut konzipiert wurde, steuern ab diesem Zeitpunkt alle Figuren auf ein Ende zu, das ich sehr unbefriedigend fand, weil es unfassbar absehbar ist. Und ich fürchte, das war sogar die Absicht des Autors. Schließlich wird von Anfang an jede Mehrdeutigkeit seines Texts ausgeschlossen, obwohl in der Figur Ott ein bisschen mit der Idee des dunklen Zwillings gespielt wird und auch die Welt des Pilz-Trips viel Potenzial für Doppelgänger und andere phantastische Motive geboten hätte.

Martin Suters „Die dunkle Seite des Mondes“ ist spannend erzählt, erfüllt jedoch nicht einmal im Ansatz die Erwartungen, die ich aufgrund des Titels und der Präsenz des Autors in der literarischen Welt zur Lektüre mitbrachte.

David Lagercrantz: The Girl Who Takes an Eye for an Eye: Continuing Stieg Larsson’s Millennium Series

Lagercrantz zeigt als Autor ein größeres Repertoire als Stieg Larsson: Vor allem im Hinblick auf die menschliche Psychologie schafft er eine kohärente Geschichte, die außerdem eine emotionale Tiefe aufweist, die den ersten drei Millennium-Bänden (absichtlich oder unabsichtlich) fehlt. Das liegt sicherlich auch an den eigentlichen Hauptfiguren von „The Girl Who Takes an Eye for an Eye“, die im Gegensatz zu Lisbeth Salander bereitwillig Einblicke in ihre Innenwelt gewähren.

Leider schafft Lagercrantz es nicht, sein Können auf Salander und Blomkvist anzuwenden – während der Lektüre fragte ich mich mehrmals, ob er sich nicht getraut hat, die Millennium-Serie tatsächlich fortzuführen. Es wirkt, als hätte er Angst vor dem ungleichen Duo, und dementsprechend enttäuschend fällt das Zusammenspiel von Lisbeth und Mikael aus:
Zielte im vierten Teil noch alles auf eine persönliche Wiederbegegnung hin, auf die man dennoch bis zuletzt warten musste, erfolgt diese in „The Girl Who Takes an Eye for an Eye“ beinahe zufällig. Daraus könnte man schließen, dass eine gewisse Normalität zwischen ihnen eingekehrt ist, was aber nicht zu ihren sonstigen Verhaltensweisen (auch einander gegenüber) passt. Und: Es entzieht dem Roman extrem viel Energie und Unterhaltungswert. Raum für Interaktionen entsteht an diversen Stellen, wird aber nicht genutzt.
Einige der interessanten Entwicklungen werden außerdem nur in Kurzform wiedergegeben, anstatt für die LeserInnen erfahrbar zu sein. Warum „Show, don’t tell“ mehr als eine vielzitierte Phrase und als Schreibtechnik oft genug der bessere Weg ist, lässt sich an David Lagercrantz’ Text hervorragend durchexerzieren.

Fazit: Ein spannender wie enttäuschender Roman, der sich einer Thematik annimmt, die zwar unter der Oberfläche der ursprünglichen Salander-Reihe wabert, aber trotzdem überrascht – was nicht zuletzt an der unerwartet gefühlvollen Erzählung über Leo Mannheimer und Dan Brody liegt.
Noch besser hätte mir das als eigene Geschichte gefallen, die außerhalb des Universums von Salander und Blomkvist spielt. Denn die beiden – angeblichen Hauptfiguren – waren weder notwendig noch besonders präsent, ihr Einbezug mutet lieblos und forciert an. Der Verweis auf Lisbeth im Titel wirkt somit reichlich deplatziert, und auch die Leidenschaft für die Zeitschrift Millennium scheint Lagercrantz zu fehlen. Hierin offenbart sich deutlich der unterschiedliche Hintergrund beider Schriftsteller: Stieg Larsson war Mitbegründer und Chefredakteur einer Zeitschrift, die sich vehement gegen Rassismus und antidemokratische Tendenzen ausspricht („Expo“). Den Idealismus, den „Män som hatar kvinnor“, „Flickan som lekte med elden“ und „Luftslottet som sprängdes“ nicht nur in dieser Hinsicht versprühen, nahm Larsson leider mit ins Grab.

Michel Serres: Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall

Ein Rant gegen den Rant: Schon 2017 in Frankreich erschienen, büßt die deutsche Übersetzung von 2019 nichts an Aktualität ein. Michel Serres nimmt sich in einem sachlichen bis zynischen Ton die Auswüchse eines verklärten Blicks auf Geschichte und Gegenwart vor – seine Antwort ist die kalte Brutalität der Vergangenheit. Dabei entkräftet er auch verschiedenste Vorwürfe gegen die „vernetzte Generation der Smartphone-Nutzer“, Menschen, die er im Weiteren als Däumlinge und Däumelinchen betitelt.
Dennoch macht der Philosoph keinen Hehl daraus, welcher Altersgruppe er selbst angehört. Sein sehr persönlicher Blick auf die Historie reicht weit zurück, aufgrund dieser Einfärbung wirken die Anekdoten aber nah und erlebbar. Vor allem zu Beginn irritierte mich der vergleichsweise nüchterne Stil, doch schließlich ist das die Quintessenz der 76 Seiten: Bleibt sachlich, auf dem Boden, klein.

Anders als beispielsweise Stéphane Hessels Essay „Empört euch“ kann das dünne Büchlein nicht zu einer Bewegung aufrufen, was auch am neutralen Ton liegen mag. „Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall“ verbleibt dagegen eine übersichtliche Quelle, aus der man schöpfen kann, um gegen Stammtisch-Argumente anzureden. Zudem sollte man sich vielleicht an vermeintlich schlechten Tagen mit der Entzauberung der nostalgischen Welt beschäftigen, um sich der Verhältnismäßigkeit eigener Bewertungen bewusst zu werden.
Denn Serres gelingt es, den Fokus einer Person von ihrer privaten auf die gesamte Welt zu rücken – unabhängig von zeitlichen und räumlichen Beschränkungen. Der Vertrauensvorschuss, den der Autor den Menschen im Allgemeinen und jüngeren Generationen im Besonderem gewährt, würde auch Personen gut anstehen, die sich häufiger im öffentlichen Blick befinden.
Michel Serres’ von der Kritik hochgelobter Humor konnte mich allerdings nur an wenigen Stellen erreichen, zu zynisch fand ich seine Betrachtungsweise an mancher Stelle, zu drastisch die Geschehnisse, als dass mir eine derartige Neutralität, die auf mich zuweilen wie Gleichgültigkeit wirkte, angemessen erschiene.

Es mag daran liegen, dass ich mehr zur Generation der vermeintlichen Däumelinchen zähle als zu jener der Meckeropas und von Michel Serres, aber seine starken Pauschalisierungen nervten mich bei der Lektüre ebenso wie das Kleinmachen. Denn das bewirkt der Philosoph – bewusst – durch das Betiteln der jungen Menschen als Däumlinge/Däumelinchen, obwohl er ihr Verhalten größtenteils verteidigt. Steht hinter der Publikation am Ende also doch nur ein alter weißer Mann, der alles besser weiß, aber nicht viel besser macht? Für Serres ist der Diminutiv von Däumelinchen selbstgewählt (!) und der einzige Weg für das Überleben der Spezies Mensch, die endlich begriffen hat, dass das eigene Schicksal von dem aller anderen, vermeintlich unterlegenen oder besiegten Völker und Lebewesen abhängt.
Dabei blendet der Philosoph individualistische Tendenzen völlig aus – sie stehen zwar nicht notwendigerweise in einem konträren Verhältnis zu Gemeinschaftswerten, würden (und sollten!) sich jedoch einer derart gleichmachenden Zuschreibung von außen verwehren. Denn auch das gehört eigentlich in Serres’ Liste von Dingen, die heute so viel besser sind: die Individualisierung, die damit einhergehende Pluralität von Lebensstilen, die immer größere Wahlfreiheit, die Möglichkeit, sich gegen Sein-Sollen-Fehlschlüsse zu erheben … letzten Endes die Option, Größe zeigen zu können, ohne andere dafür kleinzumachen. Für diesen kleinen Rant gegen den Rant gegen den Rant musste ich nun auch die selbstgewählte Vorgabe, meine Kurzrezensionen in maximal 403 Wörtern abzuhandeln, verletzen – ein Hoch auf die Wahlfreiheit!