Autorengespräch: Jens Beckert über „Imaginierte Zukunft“

Die Kölner Stadtbibliothek am Neumarkt lud am 9. Mai zum Autorengespräch: Jens Beckert stellte sein Buch „Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus“ vor, was wesentlich verständlicher war, als der Titel vielleicht suggeriert. Moderiert wurde die Veranstaltung von Gert Scobel, der mit seiner urtypischen Neugier und seinem Witz für einen bereichernden wie unterhaltsamen Abend sorgte.

Über Gert Scobel

An dieser Stelle muss ich mich zunächst als Fan von Scobel outen: Er war es, der mein Interesse an der Philosophie weckte und die bereits vorhandene Liebe für Literatur stärkte. Als einer der wechselnden Moderatoren von Kulturzeit (3Sat) lernte ich ihn kennen, als Leiter und Gesprächsführer von delta (seit 2008 scobel) lieben.
Gert Scobel ist einer der wenigen Menschen, die sich in TV-Formaten eine Diskussionskultur bewahren, und er geht nie davon aus, bereits alles (besser) zu wissen. Seine Gäste entstammen unterschiedlichen Fachbereichen, wodurch jedes Thema aus diversen Perspektiven durchleuchtet und debattiert wird. Anstelle von Eigenbeweihräucherung und Polemik findet ein respektvoller Austausch statt. Dass Scobel sogar Gesprächspartner, mit denen er einer Meinung ist, durch kritische Nachfragen grillen kann, spricht für ihn.
Und allen Menschen mit wenig Zeit sei gesagt, dass sich die Beiträge nicht nur lohnen, sondern oftmals längerfristig in der Mediathek zu sehen sind. Update für Eilige: Inzwischen hat Gert Scobel auch einen Kanal auf YouTube mit snackable Content.

Über Jens Beckert

Genug der Schwärmerei und weiter zu Jens Beckert: Der Soziologe ist seit März 2005 Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln und interessierte sich schon früh für den Zusammenhang von Wirtschaft und Gesellschaft – ein Blickwinkel, den er von seinem Studium in den USA mit nach Deutschland brachte. Die Verbindungen zwischen soziologischen Thesen und ökonomischen Aspekten kristallisierten sich bald als wichtiger Forschungsschwerpunkt heraus, weshalb Jens Beckert heute als Koryphäe der Wirtschaftssoziologie gilt und für seine Arbeit mit dem diesjährigen Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet wurde. Sein Buch „Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus“ erschien am 16. April 2018 und bietet nicht nur eine interessante Perspektive auf die vermeintlich vorhersagbare Zukunft wirtschaftlicher Entwicklungen, sondern liefert auch einen beispiellosen interdisziplinären Beitrag: Eigentlich erscheint es logisch, Wirtschaftssysteme und ihre Mechanismen innerhalb der Gesellschaft zu analysieren, in der sie existieren. Faktisch geschieht das aber nicht oder nicht mehr, denn laut Beckert gab es diese Bemühungen einer fächerübergreifenden Betrachtung in der ursprünglichen Ökonomik durchaus.

Über die Veranstaltung in der Kölner Stadtbibliothek

Jens Beckert: Imaginierte Zukunft

„Es gibt keine Fakten über die Zukunft, also gibt es immer dieses Moment des Zusätzlichen, was ich als Fiktion bezeichne. Die Akteure handeln, als ob die Zukunft sich so entwickeln würde, wie sie es sich vorstellen. Genau dieses ‚als ob’ ist die Definition des Fiktionalen.“ (Jens Beckert über Imaginierte Zukunft)

Wirtschaftsdogmen haben das Problem eines vereinfachten Blickwinkels; die Soziologie kann hier einen Ausweg bieten, indem sie den Rahmen erweitert und somit eine umfassendere Betrachtung ermöglicht. Als Hauptproblem sieht Beckert den Umstand, dass die Ökonomie auf Prognosen setzt, die nur eine Fiktion sind, da alle Annahmen, aufgrund derer Entscheidungen getroffen werden, sich auf die Vergangenheit stützen. Gesicherte Aussagen über die Zukunft existieren nicht, doch die Akteure verbergen, dass es sich bei all ihren Thesen um Entwicklungen handelt, die eintreffen oder ausbleiben können. Denn nicht alle Brüche oder Innovationen lassen sich vorhersagen, noch weniger ihr Einfluss auf die Gesellschaft und damit auch auf Marktentwicklungen. Deswegen ist diese Fiktion gefährlich: Werden alle Entscheidungen so getroffen, als wäre die Mutmaßung bereits Realität, kann eine Fehleinschätzung katastrophale Folgen haben.

Krisen wie das Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 oder die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 zeigen deutlich, wie gefährlich und selbstzerstörerisch derartige Fiktionen sein können. Dass andere Aspekte als besagte Prognosen bei der Entscheidungsfindung oft unberücksichtigt bleiben, liegt Beckert zufolge am Physikneid der Wirtschaftswissenschaftler, die eine Wissenschaft inzwischen nur für eine solche halten, wenn sie allein auf Zahlen zurückzuführen ist. Dagegen waren frühere Denkweisen eher von einem wirtschaftssoziologischen Ausgangspunkt geprägt. Beckerts Fazit lautet daher, dass eine größere Kritik- und Korrekturfähigkeit insbesondere der Markttheorien vonnöten wäre, wenn diese nicht zur bloßen Ideologie verkommen sollen. Zudem ließen sich die negativen Folgen falscher Entscheidungen hierüber möglicherweise begrenzen.

Jens Beckert und Gert Scobel im Gespräch mit dem Publikum

Die These der Fiktion, von Scobel in Anlehnung an seine eigene Publikation von 2017 als fliegender Teppich (Der fliegende Teppich. Eine Diagnose der Moderne) bezeichnet, lässt sich nicht nur auf den Bereich der Wirtschaft beziehen, wie sich in der anschließenden Diskussionsrunde herauskristallisierte. Diese hat mich übrigens äußerst positiv überrascht: Weder war sie von einer peinlichen Stille gekennzeichnet, die lediglich durch die ein oder andere Mitleidsfrage durchbrochen wurde, noch meldeten sich ständig Menschen zu Wort, die nur für ihren eigenen Wissensschatz bewundert werden wollten. Das Gespräch kehrte schließlich auf die Bühne zurück, als Beckert auf eine eher unangenehme Konsequenz seiner Theorie verwies: Demnach wären auch sämtliche Aussagen zum anthropogenen Klimawandel nur eingeschränkt gültig. Ich war sehr gespannt, ob Scobel (der zu diesem Thema bereits mehrfach klar Stellung bezogen hat) sich äußern würde, da mich seine Argumentation interessiert hätte. Leider war das nicht der Fall, aber eine entsprechende Erwiderung sollte man vermutlich erst für sich selbst zu Ende denken, bevor man große Töne spuckt. Bei mir hat dieser Denkanstoß vor allem die Frage aufgeworfen, ob die Prognosen zum anthropogenen Treibhauseffekt und seinen Folgen das System, in dem sie stattfinden, ebenso stark vereinfachen wie die Wirtschaftswissenschaften das Handeln ihrer Akteure in den jeweiligen Modellen. Denn das ist schließlich eines ihrer Probleme: je komplexer ein System, desto unzuverlässiger die Voraussagen.

Nach zwei Stunden, die wie im Flug (mit oder ohne Teppich) an mir vorbeirasten, endete das spannende Autorengespräch. Scobel präsentierte sich ein weiteres Mal als unfassbarer Assoziationsgeist, der innerhalb kürzester Zeit von Hayek, Keynes und Elon Musk zum Werther kam und in Jens Beckert, der – ebenfalls nicht von der Literaturwissenschaft abgeneigt – sogar noch Madame Bovary einwarf, einen idealen Gesprächspartner hatte.

Angesichts des erfreulichen Assoziationsfeuerwerks habe ich mir fest vorgenommen, häufiger literarische Veranstaltungen zu besuchen. Davor werde ich mir allerdings die aktuelle Scobel-Sendung zu Gemüte führen. Denn auch wenn ich die Fiktion liebe und sie meist befriedigender ausfällt als die Wirklichkeit, habe ich an diesem Abend gemerkt, dass ich mich wieder stärker und kritischer mit der Realität auseinandersetzen möchte, in der ich es mir vielleicht ein wenig zu bequem gemacht habe, da ich ja bei Bedarf aussteigen kann – zumindest temporär.